# taz.de -- Den Karren vor die Wand fahren | |
> CHANSON-PUNK Kapitalismus, Gentrifizierung, Linkspartei? The Incredible | |
> Herrengedeck geben Grotesken zu Klischees unserer Zeit zum Besten | |
VON NILS MICHAELIS | |
Was wären alternative Musikgenres ohne satirische Tondichtungen über die | |
Zukunft des Kapitalismus? Oder über urbane Verdrängungsprozesse? Die Lieder | |
von The Incredible Herrengedeck bilden ein Kaleidoskop aus musikalischen | |
und sprachlichen Grotesken, die ebenjene Fragen unserer Zeit aufgreifen und | |
im besten Sinne als Einheit von Sinn und Form zu sehen sind. | |
Das beweisen die Chanson-Punks, wie sie sich selbst nennen, etwa mit der | |
schleppenden Bossa-Nova-Nummer „Luxusliner“. Darin umschreiben die | |
Neuköllner das Schicksal einer erdachten kapitalistischen Weltelite, die | |
sich kurz vor ihrem tragischen Ende einer Massenorgie hingibt. Der | |
„Abgesang“ wird mit einer ironischen Kommentierung jener Stereotype | |
garniert, die Teile der „bürgerlichen“ Presse pflegen. „War es ein Eisbe… | |
War’s der Weiße Hai? Oder war es die neue Linkspartei?“, fragt Sänger und | |
Konzertgitarrist Tapani Gradmann, begleitet vom Pianospiel Daniel Thylmanns | |
und von Robert Rating am Kontrabass. | |
## Soundtrack zum Untergang | |
Doch nicht nur Wirtschaftsbosse werden verspottet: Der Titelsong des Debüts | |
„Soundtrack zum Untergang der Welt“, das sie im Jahr 2008 ohne | |
Plattenvertrag veröffentlichten, erzählt von auf Effekt und Berieselung | |
getrimmten TV-Programmen, in denen Warnungen vor den Folgen des | |
Klimawandels zu Worthülsen verkommen und obendrein von der Musikindustrie | |
verwurstet werden: „Das Schiff fährt auf Grund und der Karren vor die Wand. | |
Die Uhr ist abgelaufen und die Erde ausgebrannt. Jetzt spielt die Band noch | |
einen Popsong, den man gern im Ohr behält. Es ist der Soundtrack zum | |
Untergang der Welt.“ | |
Versteht man unter Ironie eine spöttisch-distanzierte Übertreibung, so | |
besitzen die Herrengedeckler diesen Abstand auch zu sich selbst. „Unser | |
Stil ist eher zufällig entstanden“, beschreibt Gradmann die Anfänge des | |
Ensembles vor gut vier Jahren. Zunächst habe die Musik vor allem als | |
Vehikel für die Texte gedient. „Wir swingen, ohne richtig swingen zu | |
können. Wir spielen Rock, haben aber kein Schlagzeug. Mit dem Kontrabass | |
versuchen wir, alles zusammenzuhalten.“ | |
Diese Haltung ist die Grundlage für die augenfällige Wandlungsfähigkeit | |
dieser Band, die Gradmann und Rating auf die Spitze treiben, wenn sie sich | |
beim letzten Song des Abends garstige Langhaarperücken überstülpen. Sodann | |
bekreischen sie in Judas-Priest-Manier einen „Kiezkiller“, der Teile | |
Neuköllns mit seiner Gentrifizierungskampage überzogen hat und bereits nach | |
Wedding und Marzahn schielt. | |
Doch auch ohne derlei Maskerade ziehen die Musiker das Publikum, das sie | |
bislang überwiegend bei Straßenfesten oder in Kneipensälen fanden, schnell | |
auf ihre Seite. Etwa indem sie das Wechselspiel zwischen so | |
unterschiedlichen Nuancen wie der Karikatur eines stocksteifen | |
Arbeiterliedes und punkigen Uptempo-Nummern mit vollem Körpereinsatz | |
unterstreichen und in ein kodderiges Gespräch mit dem Publikum einbetten. | |
Beim Herrengedeck ist jeder Song eine in sich geschlossene Performance. So | |
gesehen ähneln die Konzerte der Neuköllner einem Kabarettprogramm. Ihr | |
kommender Auftritt beim Berliner Festival Musik und Politik am 27. Februar | |
in der Wabe passt somit ins Konzept. Dass die Formation sich im | |
Festivalprogramm unter Liedermachergrößen wie Konstantin Wecker und Gerhard | |
Schöne mischt, könnte zudem den Adressatenkreis erheblich erweitern. | |
## Kampf dem Mittelmaß | |
Dem dürfte auch das neueste CD-Projekt dienlich sein: der Sampler | |
„Kiezkracher Vol. 1“. Jeder Song umfasst ein anderes Genre und stammt von | |
einer anderen Combo. Das heißt: Eigentlich ist es immer dieselbe. Nämlich | |
The Incredible Herrengedeck. Zwar ist nicht auszuschließen, dass die Liebe | |
zur Camouflage irgendwann zur Farce wird, doch vor allem für Rating ist das | |
Schlüpfen in verschiedene Rollen ein zentraler Teil seiner Identität als | |
Künstler. Einst sammelte der Endzwanziger erste Bühnenerfahrungen in | |
Theaterstücken des dadaistisch-avantgardistischen Dichters Daniil Charms. | |
Der hatte in der Sowjetunion der 1920er-Jahre dem Mittelmaß, der Langeweile | |
und der Gesetztheit den Kampf angesagt. Die unglaublichen Neuköllner | |
Weirdos erfüllen diesen Geist mit neuem Leben. | |
■ Infos zum Festival für Musik und Politik unter [1][www.songklub.de] | |
25 Feb 2010 | |
## LINKS | |
[1] http://www.songklub.de | |
## AUTOREN | |
NILS MICHAELIS | |
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