# taz.de -- Doppelt verfassungswidrig | |
> Verstoß gegen Grundgesetz und Menschenwürde: Bundeswehr darf entführte | |
> Passagierflugzeuge nicht abschießen | |
AUS KARLSRUHE CHRISTIAN RATH | |
Burkhard Hirsch und Gerhart Baum, die beiden Altliberalen, haben sich | |
wieder einmal als Gewissen der Nation profiliert. „Wir als einfache Bürger | |
haben sofort gemerkt, dass das Luftsicherheitsgesetz verfassungswidrig | |
ist“, sagte Hirsch gestern in Karlsruhe nach der Urteilsverkündung „Warum | |
aber waren Bundesregierung und Bundestag mit ihren großen Apparaten dazu | |
nicht in der Lage?“, fügte der 75-jährige FDP-Politiker hinzu. | |
Das Urteil des Verfassungsgerichts war jedenfalls eindeutig. Die von | |
Rot-Grün eingeführte Befugnis, ein von Terroristen entführtes | |
Passagierflugzeug abzuschießen, war gleich doppelt verfassungswidrig. Zum | |
einen wäre für eine derart weitreichende Regelung eine Änderung des | |
Grundgesetzes erforderlich gewesen. Außerdem verstößt die Bestimmung gegen | |
die Menschenwürde, weil hier unbeteiligte Menschen zum „bloßen Objekt | |
staatlichen Handelns“ gemacht werden. | |
Das Luftsicherheitsgesetz war im Juni 2004 beschlossen worden. Es erlaubt | |
den Einsatz der Bundeswehr bei Luftzwischenfällen im Inland. Im Extremfall | |
darf die Luftwaffe auf Befehl des Verteidigungsministers Flugzeuge | |
abschießen, die als Waffe für einen terroristischen Angriff eingesetzt | |
werden. Die Politik reagierte damit auf zwei Ereignisse: Bei den | |
Al-Qaida-Anschlägen vom 11. 9. 2001 waren Linienflugzeuge entführt und in | |
Gebäude gelenkt worden, es starben rund 3.000 Menschen. Und am 5. 1. 2003 | |
kreiste ein psychisch Kranker über der Frankfurter City und drohte, sich | |
mit seinem Kleinflugzeug in ein Hochhaus zu stürzen. | |
SPD und Grüne verzichteten auf eine Grundgesetzänderung, weil sie sonst | |
hätten mit der Union verhandeln müssen, die weiter reichende Pläne hatte. | |
Schon damals wollte die CDU/CSU die Bundeswehr im Innern zur Bewachung von | |
Gebäuden einsetzen, um die Polizei zu entlasten. Rot-Grün stützte das | |
Gesetz auf die in der Verfassung bereits vorgesehene Möglichkeit, die | |
Bundeswehr „bei einem besonders schweren Unglücksfall“ auch im Innern | |
einzusetzen (Artikel 35 Grundgesetz). | |
Diesen Trick ließ der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem | |
einstimmigen Urteil nun aber nicht durchgehen. In Artikel 35 gehe es um | |
eine Unterstützung der Landespolizei, etwa bei der Absperrung des | |
Unglücksortes. Ganz sicher sei damit aber nicht der Einsatz „militärischer | |
Waffen“, wie der Bordkanonen eines Jagdflugzeugs, gemeint. Gerade beim | |
heiklen Einsatz der Bundeswehr im Innern sei „strikte Texttreue“ | |
erforderlich. Immerhin heißt es in Artikel 87 a des Grundgesetzes auch: | |
„Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, | |
soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.“ Damit, so Karlsruhe, | |
wollte man Ende der 60er-Jahre nach langen Diskussionen um die | |
Notstandsgesetze gerade verhindern, dass es zu einer schleichenden | |
Ausweitung der Bundeswehr-Zuständigkeiten kommt. | |
Doch selbst wenn jetzt das Grundgesetz geändert würde, darf der Bundestag | |
die bisherige Regelung im Luftsicherheitsgesetz nicht einfach neu | |
beschließen. Er muss vielmehr klar unterscheiden zwischen Fällen wie in | |
Frankfurt und einer Entführung wie in New York. Der Abschuss eines | |
(Klein-)Flugzeugs, in dem nur ein oder mehrere Angreifer sitzen, kann im | |
Extremfall zulässig sein, um Menschenleben zu retten, so die Vorgabe aus | |
Karlsruhe. Denn hier würden nur Angreifer sterben, die für ihr Handeln | |
selbst verantwortlich sind. | |
Auf keinen Fall darf der Staat jedoch die Tötung unschuldiger Passagiere | |
eines entführten Flugzeuges erlauben, so Karlsruhe. Dies verbiete die | |
Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes. Wer die Entführten nur noch als | |
Teil einer Waffe sehe, bringe „geradezu unverhohlen zum Ausdruck, dass die | |
Opfer eines solchen Vorgangs nicht mehr als Menschen wahrgenommen werden“, | |
kritisierte Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier. Das Gericht wies auch das | |
Argument zurück, das Leben dieser Menschen sei „ohnehin schon verloren“, | |
denn in den wenigen Minuten bis zu einer Abschussentscheidung sei es im | |
Regelfall nicht möglich, sich ein verlässliches Bild über die Vorgänge an | |
Bord der entführten Maschine zu machen. | |
Für Piloten der Bundeswehr und den Verteidigungsminister heißt das: Wenn | |
sie künftig einen entführten Jet abschießen oder dies anordnen, weil sie | |
fest davon überzeugt sind, das Flugzeug wird zum Beispiel in ein AKW rasen, | |
dann handeln sie auf eigene Rechnung. Sie müssen sich dann strafrechtlich | |
verantworten. Die Karlsruher Richter deuteten aber an, dass hier ein | |
Freispruch wegen eines „übergesetzlichen Notstandes“ möglich wäre. | |
Was heißt dies für die Politik? Auf jeden Fall sind damit alle Vorschläge | |
vom Tisch, Soldaten ohne Grundgesetzänderung bei der Fußball-WM | |
einzusetzen. Eine Abordnung von Soldaten zur Bundespolizei unterliefe klar | |
die gegenwärtige grundgesetzliche Ordnung. | |
Eine Änderung des Grundgesetzes, die der Bundeswehr auch den Objektschutz | |
im Innern erlaubt, wäre aber möglich – wenn es dafür eine | |
Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat gibt. Ob diese zustande | |
kommt, ist reine Verhandlungssache. Karlsruhe hat hierfür keinerlei | |
Empfehlung gegeben. (Az.: 1 BvR 357/05) | |
16 Feb 2006 | |
## AUTOREN | |
CHRISTIAN RATH | |
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