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> RENAISSANCE Dance Mania Records gilt als das Motown der elektronischen | |
> Clubmusik. Sein unverkennbarer Sound ist die Blaupause für harten Acid | |
> und Ghetto-House | |
VON FINN JOHANNSEN | |
Als Ray Barney, Inhaber des Chicagoer Houselabels Dance Mania 2001, von | |
Steuerproblemen und strukturellem Wandel in der Musikwirtschaft geplagt, | |
das Geschäft auf Eis legte, war nicht abzusehen, in welchem Ausmaß seine | |
unabhängige Plattenfirma aus Chicago auch ohne weitere Veröffentlichungen | |
florieren würde. | |
Bis zu jenem Zeitpunkt waren von 1986 an sage und schreibe 300 | |
Veröffentlichungen zusammengekommen, veröffentlicht von einem kleinen, an | |
der Westside von Chicago gelegenen Laden. In einer für die schnelllebige | |
Clubkultur äußerst bemerkenswerten und einzigartigen Taktung. | |
Dancemania-Platten verkauften sich zu Boomzeiten tausendfach. Und doch | |
schrumpften die Bestände in den Plattenläden über die Jahre immer mehr | |
zusammen, bis nur noch wenige Exemplare aus Lagerbeständen übrigblieben, | |
hochgepreist auf Sammler-Niveau. | |
Die weithin gesuchtesten Titel des Dance-Mania-Katalogs hingegen schraubten | |
sich auf dem Gebrauchtmarkt bis auf dreistellige Beträge hoch. Und so war | |
es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis die Gründer davon Notiz nehmen | |
würden, dass sich das Geschäft wieder ausreichend lohnen könnte. | |
Denn das Geschäft war vor allem bei Chicago House immer ein entscheidender | |
Faktor. Rocky Jones von D.J. International und Larry Sherman von Trax | |
Records, den maßgeblichen Unternehmern der House-Gründertage in den | |
Achtzigern, waren Businesstypen von fast schon legendärer Zwielichtigkeit. | |
Und auch ihre zahlreichen, mit Knüppelverträgen ausgebeuteten Künstler | |
kommen in Interviews stets an den Punkt, an dem es eher darum geht, für die | |
Musik angemessen bezahlt, als künstlerisch angemessen gewürdigt zu werden. | |
Bei Dance Mania wurde nach einer gnadenlosen Kosten-Nutzen-Rechnung | |
gewirtschaftet. Der Sound der dort veröffentlichenden Produzenten war schon | |
billig genug, kaum jemand konnte sich hochwertiges Equipment leisten, und | |
so manche Genre-Klassiker wurden auf geliehenen Geräten zustande gebracht. | |
Doch man war jung, sprudelte vor Ideen, und konnte sie gleich in die Tat | |
umsetzen, denn auch Dance Mania presste nahezu alles, was von den lokalen | |
Talenten angeliefert wurde. | |
Und das natürlich möglichst ökonomisch. Altes Vinyl wurde in den | |
Presswerken recycelt: Man kann die vorher darauf enthaltene Musik | |
irritierenderweise an leisen Stellen noch heraushören. Man sieht auf den | |
Rillen Zeitungspapier oder sonst wie rätselhafte Krümelreste. Viele Platten | |
sind flattrig und haben regelrechte Kerben am Außenrand. Und der Cut aus | |
dem Mastering-Studio klingt bei einem Großteil der Platten so mumpfig, als | |
hätte der Toningenieur begeistert ein Dolby-Verfahren benutzt, das schon in | |
der frühesten Beta-Phase verworfen wurde. | |
Kurzum, Dance-Mania-Platten sind nichts für audiophil veranlagte Hörer. So | |
mancher Fan ist schon bei dem Gedanken verzweifelt, welche Wirkung die | |
Musik hätte entfalten können, wenn sie einfach besser klingen würde. Aber | |
genau das ist es natürlich, was die Magie des Label-Repertoires ausmacht. | |
Schon in den ersten Jahren erschienen Ausnahmeplatten von wichtigen | |
Pionieren der House-Geschichte wie Marshall Jefferson („7 Ways“), Lil Louis | |
(„Frequency“) und Farley Jackmaster Funk („House Nation“), und obwohl m… | |
wie die anderen Chicagoer Labels sämtliche Phasen nach der ersten Blütezeit | |
durchlief, zuerst Acid House, dann Vocal- und HipHouse – es gab immer diese | |
Tracks, die sich etwas weiter voranwagten als das Restgeschehen. 1997 | |
„borgten“ sich auch Daft Punk eine Sequenz des Dance Mania Tracks „Ghetto | |
Shout Out“ und zählten mehrere Künstler des Labels auf. Und als dann die | |
Konkurrenz das Level der ersten Erfolge mit kommerzielleren Stücken | |
erzwingen wollte, ging man bei Dance Mania den entgegengesetzten Weg, und | |
wurde radikaler. | |
Ausgehend von den reinen Rhythmus-Tools in den Sets legendärer DJs wie Ron | |
Hardy oder dem Hot-Mix-5-Team des Chicagoer Radiosenders WBMX, entschlackte | |
man jeglichen Ballast bis auf das Basisgerüst, den Track. 1990 erschien | |
„Armani Trax“ von Robert Armani. Die Musik bestand nur noch aus einem Beat, | |
Handclaps und einem sich stetig wiederholenden schabenden, metallischen | |
Geräusch. Dennoch erzielt das Stück nur mit diesen minimalen Mitteln eine | |
beeindruckende Sogwirkung, und der dazugehörige Erfolg machte schnell | |
Schule. | |
Nicht nur in den lokalen Clubs, sondern auch für die schnell wachsende | |
Techno-Szene Europas waren die rauen Tracks aus Chicago, etwa von DJ Rush, | |
Parris Mitchell oder Glenn Underground, eine willkommene Alternative. Von | |
ihrer oft fragwürdigen Klangqualität abgesehen, waren sie das perfekte | |
Werkzeug, dynamisch, punktgenau und bedingungslos effizient. Ob | |
alleinstehend in ihrer ganzen ausgefuchsten Reduktion oder im Mix als | |
Unterstützung von auswärtigen Stücken mit mehr Arrangements, aber weniger | |
Energie. Ab 1994 erhielt diese Mischung aus Beats und wenigen markanten | |
Tonsignalen eine neue Bedeutung durch die Zufuhr von Elementen aus dem | |
Gangsta-Bereich des HipHop und wurde zu Ghetto House. | |
Schon vorher waren Dance-Mania-Platten gern explizit, aber Produzenten wie | |
DJ Funk, DJ Deeon oder Jammin’ Gerald trieben dies auf die Spitze. Das | |
Tempo wurde weiter erhöht, und wenn man Fotos aus den Clubs in Chicago aus | |
jener Zeit betrachtet, wird schnell klar, dass sich der rasant hochpegelnde | |
Sexual Content vor allem an Frauen richtete, die auf der Tanzfläche die Sau | |
rauslassen. Tanzen zu dieser Musik war eine zutiefst physische | |
Angelegenheit und wurde mit größter Hingabe betrieben. | |
Und auch wenn man ein mehrstündiges DJ-Set nur mit Tracks bestreiten | |
konnte, in denen man von einer herrischen Stimme aufgefordert wurde, | |
irgendein Körperteil zu whippen oder zu worken, oder beides, die Musik war | |
eine Dienstleistung unter extremer Belastung, die von den Künstlern sehr | |
ernst genommen wurde. | |
Nach einigen Jahren, in denen sich dieser Sound wie geschnitten Brot | |
verkaufte, ging es wieder zurück in den Untergrund, und entwickelte sich | |
nach der Pleite des Labels in Chicago zu Phänomenen wie Juke oder Footwork, | |
welche noch schneller, aber rhythmisch viel vertrackter waren und daher mit | |
offenen Armen in der britischen Bass-Szene aufgenommen wurden. | |
Wie so oft, wenn etwas aufgegriffen wird, besinnt man sich auf die | |
Ursprünge, und der Funke springt in alle Richtungen. Schon bald hörte man | |
die Dance-Mania-Prototypen nicht nur in aktuellen Produktionen wieder, | |
sondern auch im direktem Einsatz in der DJ-Kanzel, sei es in Kombination | |
mit neueren Tendenzen oder in nostalgischer Reinkultur. | |
Natürlich ist es bezeichnend, dass der elektronischen Popmusik nach all den | |
Jahren etwas zu fehlen scheint, das die Reaktivierung von Dance Mania immer | |
noch bieten kann, aber schön ist es allemal. Diesmal klingen die Platten | |
besser, und jeder wird angemessen bezahlt. | |
26 Jul 2013 | |
## AUTOREN | |
FINN JOHANNSEN | |
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