# taz.de -- Als Ersatz bleibt ein Hemd | |
> Schwule Cowboys in Wyoming: Aus Annie Proulx’ Erzählung „Brokeback | |
> Mountain“ hat Ang Lee einen schönen Film gemacht – ohne | |
> Gay-Pride-Rhetorik, mit viel Sinn für das Drama des Selbsthasses | |
von CRISTINA NORD | |
Beim Almabtrieb hat Jack ein blaues Auge, und Ennis vermisst sein Hemd. Den | |
Sommer haben die beiden auf der Alm verbracht; dort haben sie die Schafe | |
anderer Farmer gehütet. Einmal sind sie nachts im Zelt übereinander | |
hergefallen wie hungrige Tiere, am nächsten Abend haben sie sich | |
gegenseitig versichert, nicht schwul zu sein. „Das war eine einmalige | |
Sache“, sagt Ennis, während sich die Alm in der Dämmerung vor ihm | |
erstreckt, und Jack pflichtet ihm bei: „Das geht niemanden außer uns etwas | |
an.“ Es dauert nicht lange, und sie vergessen, was sie sich beteuert haben. | |
Mit nacktem Oberkörper tollen sie über den Lagerplatz, im Schein des | |
Lagerfeuers tauschen sie Küsse. Doch dann ist der Sommer vorbei, die Herde | |
wird ins Tal getrieben, und da der Abschied bevorsteht, bricht sich die | |
Anspannung Bahn in einer Schlägerei. Zurück in der Ebene wird Ennis | |
heiraten. Jack will sich als Rodeoreiter durchschlagen. | |
Das blaue Auge verschwindet, das Hemd taucht wieder auf. 20 Jahre sind | |
vergangen, der Film geht seinem Ende zu, aber das Hemd ist dasselbe | |
geblieben. Nicht ein einziges Mal wurde es gewaschen, der Blutfleck ist | |
noch da. Es hängt im Schrank eines Kinderzimmers in einem Farmhaus irgendwo | |
in Wyoming, unter einem anderen, einem blauen Hemd. Noch ein wenig später | |
sieht man das Hemd ein letztes Mal, wieder teilt es denselben Bügel mit dem | |
blauen Hemd, mit dem Unterschied, dass diesmal das blaue Hemd in das | |
karierte eingeschlagen ist. Es ist der traurigste Augenblick in „Brokeback | |
Mountain“: An einem Stück Stoff wird eine Liebe ausgelebt, für die es in | |
der Realität zu spät ist. Das Hemd ist das Ersatzobjekt für jemanden, der | |
unerreichbar geworden ist. | |
Es ist dies nur ein Beispiel für die Subtilität, die Ang Lees Verfilmung | |
von Annie Proulx’ Kurzgeschichte „Brokeback Mountain“ zu eigen ist. Der | |
Film erzählt über 20 Jahre hinweg von Jack und Ennis, von ihrer Liebe, von | |
dem, was sie tun, um von dieser Liebe loszukommen, und davon, wie diese | |
Liebe sie immer wieder einholt. Die Handlung setzt im Jahr 1963 ein, in | |
einem Ort in Wyoming, Jack und Ennis sind keine 20 und geben sich Mühe, wie | |
harte Männer aufzutreten. Ihre Hüte werfen tiefe Schatten in die Gesichter, | |
das ist wichtig, insofern es häufig gilt, das Gesicht vor dem Gegenüber zu | |
verbergen. Auf der Alm sieht man sie oft bei häuslichen Verrichtungen: Sie | |
spülen Geschirr, sie machen Bohnen über dem offenen Feuer warm, sie waschen | |
ein Stück Kleidung im Fluss. Schon hieran lässt sich erkennen, dass der | |
Western-Schauplatz des Films immer wieder durchstoßen wird. Jack (Jake | |
Gyllenhaal) und Ennis (Heath Ledger) sind nicht die harten Cowboys, die sie | |
in ihren Posen zu sein vorgeben. | |
Auch der Umstand, dass die beiden Schafe hüten, spricht für sich: Die | |
Berglandschaft – von der Kamera Rodrigo Prietos in weiten Totalen und | |
klaren, luminösen Farben erfasst – ist bukolisches Terrain, eine | |
friedvoll-idyllische Welt, die die Zwänge der Gesellschaft und die Enge der | |
Kleinstadt außer Kraft setzt. Hier bewegen sich Jack und Ennis wie moderne | |
Gesandte antiker Hirtendichtung. Ganz anders gestaltet sich der Alltag in | |
den Kleinstädten der Ebene: Hier ist jeder Innenraum klaustrophobisch, hier | |
ist der Mangel, ist das unerfüllt bleibende Leben Leitmotiv. | |
„Brokeback Mountain“ führt die Geschichte seiner schwulen Figuren zu etwas | |
zurück, was im schwullesbischen Mainstreamkino rar geworden ist. Denn Lee | |
verhandelt nicht nur das Drama einer repressiven Gesellschaft, wie man es | |
in jedem Coming-out-Film vorgeführt bekommt. Vielmehr als das interessiert | |
ihn das Drama des Selbsthasses, der Selbstverleugnung und der Scham. In | |
vielen Filmen mit schwuler oder lesbischer Thematik darf dieses Drama nur | |
unter der Bedingungen vorkommen, dass es überwunden wird – in der großen, | |
der spektakulären Coming-out-Szene. Ein unangenehm triumphalistisches | |
Handlungsmuster, das alles Quälende, den Zweifel an sich selbst, kurz | |
alles, was Filme interessant macht, ausschließt. Das Anstößige – früher | |
zentraler Bestandteil queeren Filmschaffens – findet heute Platz nur noch | |
im Experimentalfilm, in No-Budget-Produktionen wie Jonathan Caouettes | |
„Tarnation“ oder bei Filmemachern wie Gregg Araki oder Todd Haynes. | |
Vor diesem Hintergrund muss man Lee dankbar sein für seine beiden schwulen | |
Cowboys, die könnten, wenn sie wollten, aber das Wollen nicht wagen, weil | |
es ihnen niemand beigebracht hat. Während eines Schlüsseldialogs brüllt | |
Ennis: „Ich bin niemand, nirgendwo!“ Bevor er diese Wörter ausstößt, pre… | |
er seine Faust gegen Stirn und Nase, als müsste er zurückhalten, was zu | |
sagen er im Begriff ist. Nicht einmal jetzt kann er sich öffnen; noch immer | |
muss er sich selbst kasteien. | |
In der New York Review of Books schrieb der Publizist Daniel Mendelsohn | |
kürzlich einen Essay über „Brokeback Mountain“. Es ging dem Autor vor all… | |
darum, zu zeigen, dass sowohl die PR-Kampagne zum Film wie die allermeisten | |
Rezensionen in US-amerikanischen Zeitungen die Wörter „homosexuell“ und | |
„schwul“ nicht einmal mit spitzen Fingern anfassen. Ang Lee selbst spricht | |
in Interviews von einer „großen amerikanischen Liebesgeschichte“ (siehe | |
unten); das Wörtchen „schwul“ benutzt auch er nicht. Das ist insofern | |
merkwürdig, als man den Eindruck gewinnt, das Spezifische des Films solle | |
getilgt werden, um das breitere, möglicherweise konservative Publikum nicht | |
zu vergraulen. Mendelsohn weist diese Sicht auf den Film wie auch die | |
PR-Strategie zu Recht zurück, da sie den Kern der Geschichte von Jack und | |
Ennis unterschlägt. „Weil sie sehr früh lernen, Homosexualität zu hassen�… | |
notiert Mendelsohn, „wachsen viele junge Menschen mit homosexuellen | |
Impulsen auf, indem sie sich selbst hassen. Sie glauben, etwas stimme mit | |
ihnen nicht, bevor sie begreifen, dass es die Gesellschaft ist, mit der | |
etwas nicht stimmt.“ Mendelsohn sieht diesen Selbsthass im Spiel von Heath | |
Ledger umgesetzt, in der Wortkargheit, den unterdrückten Gesten, der | |
Unmöglichkeit, sich zu zeigen. Ennis geht nur aus sich heraus, wenn er sich | |
prügelt. Einmal – er besucht mit seiner Frau Alma (Michelle Williams) eine | |
Feier zum 4. Juli – gerät er in einen Streit mit zwei Bikern, und seine | |
Tritte und Schläge versetzen seinen Körper in eine Raserei, die der | |
Explosion des Feuerwerks im Bildhintergrund verwandt ist. | |
Indem Ang Lee auf jede sentimentale Geste, jede süßliche Wendung | |
verzichtet, gibt er dem Kino – zumal dem schwullesbischen – etwas | |
Essenzielles zurück: Ohne Sinn für Tragik lässt sich vom verpassten Leben | |
nicht erzählen. | |
„Brokeback Mountain“. Regie: Ang Lee. Mit Heath Ledger, Jake Gyllenhaal u. | |
a. USA 2005, 134 Min. | |
9 Mar 2006 | |
## AUTOREN | |
CRISTINA NORD | |
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