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# taz.de -- „Ich mache nur noch, was mich wirklich interessiert“
> DER POSITIVE Als Carsten Schatz 1991 erfuhr, dass er sich mit dem
> HI-Virus angesteckt hatte, glaubte er, nicht mehr lange zu leben. Er
> irrte sich. Heute geht es dem 43-Jährigen gesundheitlich gut. Seit vielen
> Jahren arbeitet er für die Linkspartei und rückt jetzt ins
> Abgeordnetenhaus nach – als erster HIV-Positiver in einem deutschen
> Parlament
INTERVIEW ANTJE LANG-LENDORFF, FOTOS WOLFGANG BORRS
taz: Herr Schatz, was haben Sie heute schon für Ihre Gesundheit getan?
Carsten Schatz: Nichts Wesentliches.
Sie sind HIV-positiv. Müssen Sie nicht Medikamente nehmen?
Ja schon, aber das gehört zur täglichen Routine. Ich dachte, Sie meinen, ob
ich joggen gehe oder so was.
Tun Sie?
Oh Gott, nein.
Antiretrovirale Medikamente, die die Aktivität des HI-Virus hemmen, können
starke Nebenwirkungen haben. Macht sich das bei Ihnen bemerkbar?
Ich weiß, dass andere Leute darunter leiden, aber ich gehöre zu den
Glücklichen, die keine Nebenwirkungen haben.
Fühlen Sie sich denn aufgrund Ihrer Infektion in irgendeiner Form krank?
Nein, ich merke davon gar nichts. Im Gegenteil, ich fühle mich gut.
Das ist ja erfreulich.
Nicht wahr?
Sie rücken für die Linkspartei ins Abgeordnetenhaus nach und sind dann der
erste offen HIV-positive Parlamentarier auf Landesebene. Auf Bundesebene
gibt es das noch gar nicht. Bedeutet Ihnen das etwas?
Mir persönlich eigentlich nicht. Ich nehme aber wahr, dass es anderen viel
bedeutet, und insofern bedeutet es mir auch wieder was. Inzwischen sagen ja
die meisten Menschen bei uns: Na und?, und reden nicht weiter drüber. Das
ist auf der einen Seite okay, auf der anderen Seite steht dahinter eine
Ignoranz. HIV und Aids sind ja mit Metaphern verbunden – Rausch,
Sexualität, Lust –, damit wollen viele nichts zu tun haben. Das wird
ausgeblendet und tabuisiert.
Sie bevorzugen es, wenn Leute das ansprechen?
Das ist mir tausendmal lieber, als wenn sie es schamhaft beiseite packen,
aber eigentlich ein Problem damit haben.
Erleben Sie denn als HIV-positiver Schwuler Diskriminierung im Alltag?
Die Dialogverweigerung ist schon so was wie Diskriminierung. Wir alle haben
den Anspruch, als das wahrgenommen zu werden, was wir sind, in all unserer
Unterschiedlichkeit. Natürlich nur so, wie wir uns zeigen. Ich habe mich
entschieden, mich zu zeigen. Und insofern möchte ich auch, dass die Leute
um mich herum damit umgehen.
Sind Sie stolz darauf, dass Sie trotz des Virus so eine politische Karriere
hinlegen?
Ja, doch. Ich bin 1991 positiv getestet worden, da war ich 21 Jahre alt.
Damals habe ich nicht erwartet, noch 25 zu werden. Jetzt bin ich 43. Ich
habe mich beruflich durchgebissen. Da habe ich schon was erreicht im Leben,
im Sinne gesellschaftlicher Positionen. Ich habe in der Zeit auch viele
Diskussionen angestoßen, Dinge mitverändert. Da bin ich schon stolz drauf.
Sie sind in Lichtenberg aufgewachsen und Ende der 80er Jahre nach
Prenzlauer Berg gegangen. Wann wurde Ihnen klar, dass Sie schwul sind?
Das hat eine Weile gedauert. Gemerkt habe ich das sicherlich schon mit 13
oder 14. Aber für mich selber sagen konnte ich das vielleicht mit 16,
anderen gegenüber frühestens mit 18.
Wie empfanden Sie den Umgang mit Schwulen in der DDR? Der diskriminierende
Paragraf 175 wurde ja viel früher abgeschafft als in der BRD.
Man wusste, dass es Schwule gibt, aber es wurde nicht darüber gesprochen,
und wenn, dann eher abwertend. Ich habe erst im Nachhinein viele Dinge
erfahren. Beispielsweise, dass man Ende der 80er in Ostberlin als schwules
Paar eine Wohnung bekommen konnte. Von so etwas wusste ich damals nichts.
Gab es eine schwule Szene, in der sie verkehrten?
Zu Ostzeiten eher nicht. Klar habe ich mein Leben organisiert und meine
sexuellen Kontakte, aber darüber hinaus habe ich Abstand gehalten. Erst
später habe ich begriffen, dass Leute wie ich, die etwas verändern wollen,
sich auch organisieren sollten.
Aus was für einem Milieu kommen Sie?
DDR-Mittelschicht würde ich sagen. Meine Eltern sind arbeiten gegangen,
meine Mutter in einer Bank, mein Vater in einem Industriebetrieb. Sie waren
systemnah, in der Partei, und hatten relativ gute Jobs. Sie gehören zu
einer Generation, die von der DDR profitiert hat. Beide waren
Arbeiterkinder, die früh Bildungschancen bekamen und eine berufliche
Karriere machen konnten, die ihnen einen höheren Lebensstandard
ermöglichte.
Zur Wende waren Sie 19 Jahre alt. Was hat dieses Ereignis für Sie bedeutet?
Erst mal Freiheit. Ich war damals schon in der Partei, ich fand Sozialismus
gut. Und was mit Gorbatschow in der Sowjetunion passierte, hat mir sehr
gefallen. Eine Gesellschaft zu bauen, die tatsächlich auch von den Leuten
getragen wird, die in ihr leben. Einen besseren Sozialismus zu bauen, das
war mein Ziel. Insofern habe ich die Wende schon als Chance gesehen.
Und dann folgte die Einheit.
Das fand ich nicht schlimm, früher oder später musste das so kommen. Aber
es war überstürzt. Und es ging schon damals einher mit einer absoluten
Entwertung von allem, was im Osten war. Das habe ich mit einem weinenden
Auge gesehen. Die Idee vom besseren Sozialismus war auch erst mal
öffentlich diskreditiert.
Wieso hat die Wende dann für Sie Freiheit bedeutet?
Das politische Korsett, in dem ich gelebt hatte, fiel weg. Das war
befreiend.
Was hatte der Fall der Mauer für Sie persönlich für Folgen?
Damals war mein absoluter Lieblingsfilm „Linie 1“, der Ende der 80er auch
in Ostberlin ins Kino gekommen war. Den habe ich bestimmt acht Mal gesehen.
Ich werde nie vergessen, wie ich das erste Mal in Westberlin war. Ich bin
mit einem Freund am Checkpoint Charlie rüber und dann am Halleschen Tor in
die U-Bahn eingestiegen.
Und?
Es war nicht so spektakulär wie im Film. Aber tatsächlich dort zu sein, zu
merken, dass das ganz normal ist, war auch eine Erfahrung. Man kann sich
das heute kaum mehr vorstellen. Ja, wir hatten im Osten Fernsehen und
Radio. Aber auf den Stadtplänen war der Westteil einfach eine gelbe Fläche.
Da gab es nicht mal Straßen. Die sinnliche Erfahrung war deshalb wichtig.
Zu merken, da leben Menschen wie wir.
Haben Sie in der Folge auch die Westberliner Schwulenszene für sich
entdeckt?
Ja klar. Von Leuten, die auch vor der Wende schon in den Westen konnten,
wusste ich, wo man in Schöneberg hingehen muss. Ins Tom’s, ins Wu Wu. Auch
in die Schwulensaunen, so was gab es in der DDR ja gar nicht.
Fiel das in die Zeit, als Sie sich infizierten?
Das hatte mit Westberlin direkt nichts zu tun. In der Zeit war einfach viel
Sex.
Wissen Sie denn, bei wem Sie sich angesteckt haben?
Nein, das hat mich noch nie interessiert.
Wieso nicht?
Ich sage immer, das war mein Ding. Hätte ich keinen ungeschützten Sex
gewollt, wäre es nicht passiert. Ich bin das Risiko eingegangen, dann muss
ich auch mit den Folgen leben. Punkt. Aus. Ende.
Die Schuldfrage mögen Sie so für sich beantworten. Aber man hat doch eine
Verantwortung, weitere Ansteckungen durch diese Person zu verhindern.
Ja, die hat man. Ich nehme sie wahr, indem ich anderen sage, trefft
Vorsorge, nehmt Kondome, schützt euch.
Wie haben Sie von der Infektion erfahren?
Ich hatte damals eine Untersuchung am Darm. Da wurde ein HIV-Test
mitgemacht. Ich wollte das eigentlich nicht, aber sie haben es mir einfach
untergeschoben. Der Arzt erzählte es mir dann eher beiläufig. Das hat mich
alles sehr gestört.
Wieso wollten Sie nicht wissen, ob Sie positiv sind?
Welche Optionen hatte man denn damals, wenn man davon erfuhr? Keine. Das
Wissen darum versetzte einen mehr in Terror, als dass es geholfen hätte.
Und die Ansteckung anderer zu verhindern war für Sie kein Grund?
Der Schutz sollte ja sowieso funktionieren, dazu muss ich es nicht wissen.
Mir war ja klar: Wenn ich mich in einer Szene bewege, die anonyme
Sexkontakte pflegt, ist es natürlich vernünftig, Vorsorge zu treffen. Das
mache ich, und das erwarte ich auch von anderen. Insofern war mir das
damals nicht wichtig.
Dann haben Sie es vom Arzt doch erfahren. Wie gingen Sie damit um?
Es hat eine Zeit gedauert, bis ich damit klarkam. Ich habe fast ein Jahr
gebraucht, um wieder Sex zu haben, weil ich mich vor mir selbst gefürchtet
habe, dass ich nicht gut genug aufpasse. Ich wollte das zunächst auch
niemandem erzählen. Irgendwann hatte ich dann doch das Bedürfnis, mich
auszutauschen, und bin in eine Selbsthilfegruppe in Prenzlauer Berg. Da war
ich mit Abstand der Jüngste, aber das war total nett. Mit den Leuten hatte
ich einfach eine Wellenlänge. Auch deshalb, weil es lebensweltlich im Osten
verortet war. Wir teilten eine gewisse coole Sicht. Uns fehlt in der
Sozialisation ja dieses touchy-feely, also dieses Körper- und
Gefühlsbetonte, das einem als chronisch Krankem oft entgegengebracht wird.
Suspekt ist mir das bis heute. Auch wenn ich inzwischen einen Umgang damit
gefunden habe.
Wie war denn der Verlauf der Krankheit?
Bis 1997 war ich ohne Behandlung. Dann hatte ich einen klassischen Verlauf.
Das Immunsystem brach langsam zusammen, ich bekam eine Gürtelrose. Ich fing
an, Medikamente zu nehmen. Die Symptome sind alle wieder verschwunden, ich
bin selbst erstaunt.
Was sagen denn die Ärzte, welche Perspektive Sie haben?
Eine normale Lebenserwartung wie Gesunde auch.
Was für ein Fortschritt! Bei vielen anderen, die sich in den 90ern
infizierten, ist die Krankheit nicht so glimpflich verlaufen.
Ich habe bei der Welt-Aids-Konferenz 1993 in Berlin einen Amerikaner
kennengelernt, mit dem ich drei Jahre zusammen war, bis er 1996 starb. Im
Herbst 1995 war er nach Berlin gezogen, im Dezember brach die Krankheit
aus, im März war er tot. Das ging alles sehr schnell.
Was macht so ein Verlust mit einem?
Ich war 26, als er starb. Eigentlich hatten wir vor, unser Leben gemeinsam
zu verbringen. All das, was wir uns zusammen erträumt und erhofft hatten,
war zerstört. Ich war danach längere Zeit nicht mehr in der Lage, eine
Beziehung zu führen. Weil ich das selber nicht noch mal erleben und es auch
niemand anderem zumuten wollte.
Was für ein Verhältnis haben Sie heute zum Tod?
In den 90er Jahren war der Tod immer präsent. Es verging kaum eine Woche,
in der ich nicht hörte, dass wieder ein Freund oder Bekannter gestorben
war. Das ist zum Glück weniger geworden. In US-amerikanischen
Künstlerkreisen ist ja der Begriff des Schwulenholocaust geprägt worden.
Mir ist schon klar, dass das politisch nicht korrekt ist. Aber manchmal,
wenn ich Freunde angucke, die wie ich übrig geblieben sind, dann erkenne
ich da schon gewisse Parallelen zu Überlebenden des Holocaust. Ich stelle
mir ganz häufig die Frage: Warum er? Warum nicht ich? Ich kannte Leute, die
haben sich später infiziert und sind schneller gestorben.
Konzentriert man sich eigentlich auf das Wesentliche, wenn man so sehr mit
dem Tod konfrontiert ist?
Ja. Ich habe mir angewöhnt, nur die Dinge zu machen, die mich wirklich
interessieren. Alles andere geht mir am Arsch vorbei.
Keine Kompromisse.
An der Stelle nicht. Ich dachte damals, ich habe nicht so viel Zeit, ich
will das tun, was mir Spaß macht. Ende der 90er Jahre habe ich
festgestellt, wow, da kommt noch was. Es ging mir gesundheitlich besser.
Ich dachte, jetzt hat mir jemand was geschenkt: Zeit. Ich habe ein Studium
begonnen, eine neue Beziehung, in der ich noch heute lebe.
Sie sagen: Jemand hat mir was geschenkt. Glauben Sie an Gott?
Nein. Aber ich nehme es als Geschenk wahr, von wem auch immer, von der
Wissenschaft. Im Großen und Ganzen bin ich Atheist.
Nach dem Tod kommt nichts? Ich könnte mir jedenfalls nicht vorstellen, was
das dann sein sollte. Ich glaube aber, dass Leute in der Erinnerung und
durch das, was wir tun, weiterleben. Das habe ich auch immer als
Verpflichtung empfunden. Ein sehr enger Freund ist zum Beispiel Anfang der
90er gestorben. Ich hatte damals eine gewisse Distanz zur PDS aufgebaut. Er
hat mich wieder zurückgeholt und wollte, dass ich seine Arbeit weitermache.
Ich habe ihm das versprochen. Natürlich fühle ich mich dem verpflichtet.
Er wäre sicherlich zufrieden mit Ihnen. Sie waren lange
Landesgeschäftsführer der Linken, sind Vorsitzender in Treptow-Köpenick,
haben bei Petra Pau im Wahlkreisbüro gearbeitet und sind derzeit
wissenschaftlicher Mitarbeiter von Stefan Liebich im Bundestag. Sind Sie
ein Parteisoldat geworden?
Auf eine gewisse Art und Weise, ja. Ich habe versucht zu vermeiden, die
absolute Schachfigur zu sein. Aber ich glaube schon, dass soziale
Organismen wie eine Partei nur funktionieren, wenn jeder und jede seine und
ihre Aufgaben wahrnimmt.
Jetzt ziehen Sie ins Abgeordnetenhaus ein …
Ich bin ein gebranntes Kind. Ich traue der Sache erst, wenn ich den Zettel
in der Hand habe.
Sie spielen darauf an, dass Sie schon nach der Wahl 2011 ins Parlament
einziehen sollten – und dann wieder rausgeflogen sind.
Ja. Dieser Wahlsonntag war für uns angesichts des Ergebnisses nicht schön.
Ich kam nach Mitternacht nach Hause. Und dann stand da mein Freund an der
Tür mit einem Glas Sekt und gratulierte – weil mein Name auf der Liste der
Abgeordneten auftauchte. Zwei Tage später stellte sich heraus, dass die
Stimmen von der Linken und den Grünen verwechselt wurden. Das war völlig
verrückt. Da ruft einen niemand an, geschweige denn entschuldigt sich. Ich
habe aus dem Radio erfahren, dass ich doch nicht ins Parlament komme.
Wenn es jetzt doch noch klappt, was ist Ihr wichtigstes Anliegen?
Mir ist wichtig, dass die Aufklärung rund um den Flughafen vorankommt. Und
dass der öffentliche Dienst wieder besser ausgestattet wird. Und klar, die
hohen Mieten sind auch ein brennendes Thema.
Freuen Sie sich schon auf Ihre erste Rede im Abgeordnetenhaus?
Ich werde aufgeregt sein. Das bin ich immer, wenn ich vor vielen Leuten
spreche.
Machen einen Erfahrungen mit Krankheit und Tod nicht ein bisschen cooler?
Nach dem Motto, es gibt Wichtigeres?
Ob das jetzt als Abgeordneter eine Rolle spielen wird, weiß ich nicht. Aber
klar, es verleiht mir bei Problemen manchmal einen kleinen Vorteil. Wenn
andere Leute schnell aufgeregt sind, sage ich: Lass uns durchatmen und dann
noch mal draufschauen. Wir finden schon eine Lösung.
14 Sep 2013
## AUTOREN
ANTJE LANG-LENDORFF
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