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# taz.de -- Als Dänemark Geschichte schrieb
> SAMARBEJDSPOLITIKKEN Viele dänische Juden konnten vor den Nazis gerettet
> werden. Ein neues Buch versucht sich an einer Erklärung dieser Ausnahme
> und löst eine Debatte aus
VON REINHARD WOLFF
Im von Hitlerdeutschland besetzten Europa war das Schicksal der dänischen
Juden eine Ausnahme. 90 Prozent von ihnen konnten sich nämlich vor der
drohenden Deportation in die Vernichtungslager in Sicherheit bringen. Vor
70 Jahren, im Oktober 1942, verlief die Rettungsaktion, bei der an Bord von
mehreren hundert Booten und Fischkuttern 7.742 Menschen über das Meer nach
Schweden fliehen konnten. „Die einzige wirklich welthistorische
Begebenheit, die in modernerer Zeit in Dänemark passiert ist“, so die
Einschätzung von Claus Bundgård Christensen, Historiker an der Universität
Roskilde: „Und das meine ich nicht ironisch.“
„Die Ausnahme“ lautet der Titel der deutschen Übersetzung eines jetzt
erschienenen Buchs des Exdiplomaten, Historikers und Chefredakteurs der
Zeitung Politiken, Bo Lidegaard. Diese Ausnahme bestand in seinen Worten
darin, dass sich „hier Täter, Opfer und Zuseher auf eine Weise verhalten,
die entschieden von den Verhaltensmustern in anderen besetzten Ländern
abwich“. Sein Fazit: „Und die Summe aller dieser Abweichungen hat die Logik
des Völkermords in Dänemark so gravierend verändert, dass sie dort
versagte.“
In Tagebuchform und unter Rückgriff auf bislang teilweise unveröffentlichte
Aufzeichnungen Betroffener schildert Lidegaard die entscheidenden 14 Tage
zwischen dem 26. September und dem 9. Oktober 1943. Dabei interessiert ihn
nicht nur, „wie die dänischen Juden mit Hilfe ihrer Mitbürger der
Vernichtung entkamen“, sondern auch das Warum.
Dänemark sei „durch eine Reihe von Umständen gegenüber anderen besetzten
Ländern deutlich privilegiert“ gewesen, konstatiert der Verfasser. Mit
„Friedensokkupation“ umschreibt er die Tatsache, dass das Leben nach der
Besetzung durch Deutschland am 9. April 1940 im Großen und Ganzen seinen
normalen Gang nehmen und eine dänische Regierung im Amt bleiben konnte.
Ermöglicht wurde diese „Friedensokkupation“ durch die Samarbejdspolitikken,
eine weitgehende politische und ökonomische Zusammenarbeit der dänischen
Regierung mit den Besatzern.
Die Beurteilung dieser Kooperation – Realpolitik oder peinliche Feigheit? –
war und ist in Dänemark selbst heftig umstritten. Sie begann auch nicht
erst an dem Tag, als deutsche Truppen die Grenzen zu Dänemark
überschritten, vielmehr reichten ihre Wurzeln Jahre zurück. Um sich mit dem
mächtigen Nachbarn im Süden nicht anzulegen, zeigte sich Kopenhagen zu
nahezu jeder Konzession bereit. 1938 machte man die Grenzen für jüdische
Flüchtlinge aus Deutschland dicht. Im gleichen Jahr räumte man der
deutschen Luftwaffe das Recht ein, dänischen Luftraum über den Zugängen zur
Ostsee zu überfliegen. Und 1939 verminte die dänische Marine auf deutsche
„Bitte“ hin das Fahrwasser, um britische U-Boote daran zu hindern, in die
Ostsee einzudringen.
Lidegaard gehört zu den Historikern, die diese Samarbejdspolitikken als
„kleineres Übel“ verteidigen und ihre Erfolge betonen. Auch den Nazis,
meint er, sei diese Zusammenarbeit wichtiger gewesen als die Jagd auf die
dänischen Juden.
Beispiel Werner Best. Am 17. September 1943 hatte der SS-Mann und
Statthalter im besetzten Dänemark aus Berlin den Befehl zur Verhaftung und
Deportation der rund 8.000 im Lande lebenden Juden erhalten. Über den
deutschen Gesandten in Kopenhagen, Georg Ferdinand Duckwitz, ließ er
Mitglieder der dänischen Regierung rechtzeitig über die bevorstehenden
Verhaftungen informieren. Die ihrerseits gaben diese Information an
Kirchengemeinden und jüdische Organisationen weiter, was die Rettungsaktion
ermöglichte.
Über Bests Motive wird bis heute spekuliert. Sollte es eine Art
Lebensversicherung gewesen sein zu einer Zeit, als sich Deutschlands
militärische Niederlage immer deutlicher abzeichnete – die Alliierten waren
bereits in Süditalien gelandet? Dann wäre diese Kalkulation jedenfalls
aufgegangen: 1948 wegen der Ermordung Hunderter Menschen in erster Instanz
zum Tode verurteilt, endete das Verfahren gegen Best vor dem obersten
dänischen Gerichtshof mit einer 12-jährigen Freiheitsstrafe. Nicht zuletzt
unter Verweis auf seine Rolle bei der Rettung dänischer Juden. Auf
bundesdeutschen Druck hin wurde er schon 1951 aus der Haft entlassen und in
die Bundesrepublik abgeschoben.
Dass von den deutschen Verhaftungskommandos „nur“ noch 481 Juden
festgenommen werden konnten, nachdem alle anderen untergetaucht oder nach
Schweden geflohen waren, wobei sich die deutsche Küstenwache auf beiden
Augen blind stellte und kein einziges Boot stoppte, hinderte Best
jedenfalls nicht, eine erfolgreiche Ausführung des Befehls nach Berlin zu
melden. Denn schließlich war Dänemark nun ja tatsächlich „judenfrei“. Mit
dieser „elastischen Behandlung der Judenfrage in Dänemark“ zeigte sich auch
der deutsche Außenminister von Ribbentrop nachträglich zufrieden.
Doch diese Ausnahme wäre ohne die umfassende Bereitschaft der DänInnen,
ihren jüdischen MitbürgerInnen zu helfen, nicht möglich gewesen, betont
Lidegaard. Er spricht von einem „zivilen Ungehorsam“, den „fast ein ganzes
Volk“ geleistet habe, indem „es sich empört und zornig gegen die
Deportation seiner Landsleute“ aufgelehnt habe. Und der Verfasser glaubt
auch hierfür die Wurzeln in der dänischen Politik der 1930er Jahre finden
zu können: „Seit 1933 hatten die dänischen Politiker konsequent jeden
Versuch abgeschmettert, eine Spaltung zwischen Dänen und Dänen je nach
Abstammung herbeizuführen. Wer die demokratischen Grundwerte bedrohte,
wurde vom nationalen ‚Wir‘ ausgeschlossen. Und seit damals war es führenden
Politikern gelungen, die ganze Nation auf die humanistischen Werte
einzuschwören, auf denen die dänische Gesellschaftsordnung beruht.“
Das sei natürlich eine „wahrlich verlockende“ Erklärung, heißt es in ein…
Rezension des Lidegaard-Buchs in der dänischen Tageszeitung Kristeligt
Dagblad: „Die Juden sind also gerettet worden, weil die Dänen ein besonders
vortreffliches Volk sind?“ Und auch andere Rezensenten des Anfang September
unter dem Titel „Landsmænd“ (Landsleute) erschienenen dänischen Originals
meldeten Widerspruch an. Der von Lidegaard behauptete nationale
Zusammenhalt sei ein Mythos, den die Geschichtsschreibung längst hinter
sich gelassen habe, meint beispielsweise die linke Information: Das Wir sei
eine nachträgliche Idealisierung.
Wo war das Wir bei den dänischen Kollaborateuren, ohne die die Nazis ihre
Aktionen gar nicht hätten durchführen können? Wo waren die humanistischen
Werte, auf die eine Nation angeblich eingeschworen worden war, als es um
die jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland ging? Wo bei den dänischen
Kommunisten, als diese 1941 zu Tausenden interniert und später in die
Konzentrationslager verfrachtet wurden.
Auch wird in der dänischen Rezeption des Buches gefragt, ob es vielleicht
gar nicht so sehr die von Lidegaard als „Helden“ gefeierten
„Spitzenpolitiker“ mit ihrer Zusammenarbeitslinie waren, die die Nazis zur
Zurückhaltung veranlassten. Sondern dass diese vielmehr die wachsende
Widerstandsbewegung mit ihren Streiks, Sabotageaktionen und bewaffneten
Anschlägen nicht zusätzlich provozieren wollten.
Hinter „seinem Glanzbild“ (Information) der Rettungsaktion vergisst
Lidegaard zwar nicht, die Rolle des Geldes zu erwähnen, das bei den
Schiffstransporten eine zentrale Rolle spielte. Teilweise wurden die
Flüchtenden nämlich regelrecht ausgeplündert und von ihnen nach heutigem
Geldwert zwischen einigen tausend und einigen zehntausend Euro für die
Flucht kassiert.
Doch das sei eben dem vermeintlichen Risiko geschuldet gewesen, meint der
Verfasser: Dass dieses tatsächlich gar nicht bestand, hätten die Helfer ja
nicht gewusst.
Die Schwäche von Bo Lidegaards Buch sei sein Versuch einer monokausalen
Erklärung der Geschehnisse, lautet der Einwand in Lidegaards eigener
Zeitung Politiken. Lesenswert ist „Die Ausnahme“ aber allein schon wegen
der Schilderung der Flucht jüdischer Familien nach Schweden. Und Kritik an
seinen Erklärungen macht die von ihm abschließend gestellte Frage nicht
weniger wichtig: „Warum geschah das oder Ähnliches nicht auch andernorts?
Hätte der Völkermord mit einer offenen Ablehnung der ideologischen Logik
hinter der Vernichtung des Judentums nicht auch in anderen besetzten
Ländern – und in Deutschland selbst – aufgehalten werden können?“
Das dänische Beispiel tauge zwar nicht, um an anderen Ländern moralische
Kritik zu üben, betont Lidegaard, aber trotzdem gebe es auf diese Frage
eine eindeutige Antwort: „Ja, ja natürlich!“
■ Bo Lidegaard: „Die Ausnahme. Oktober 1943: Wie dänische Juden mithilfe
ihrer Mitbürger der Vernichtung entkamen“. Blessing Verlag, München 2013,
592 Seiten, 24,99 Euro
16 Oct 2013
## AUTOREN
REINHARD WOLFF
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