# taz.de -- Kinder an der Front | |
> JUBELWOCHE Wie taz2 seine heroische Gründungsphase im Diskursgewitter | |
> überlebte – und sich auch noch fortpflanzte | |
VON MARTIN REICHERT | |
Als taz2 gegründet wurde, also vor zehn Jahren, war man mit 30 in dieser | |
Zeitung noch sehr jung. Das hatte unter anderem mit der damaligen | |
Angewohnheit des Langzeitstudierens zu tun – man prokrastinierte sich der | |
drohenden Arbeitslosigkeit davon, denn auch damals war schon oder schon | |
wieder Medienkrise, ich weiß nicht mehr genau warum. | |
Das Internet war noch nicht schuld, aber zumindest die taz war gerade dank | |
diverser Rettungskampagnen einer lebensbedrohlichen Krise entkommen. Das | |
neue Ressort taz2 sollte nun ein wichtiger Schritt in die Zukunft sein. Es | |
sollte den „Alltag“ abbilden, Gesellschaftsthemen aufgreifen, auch solche | |
des Boulevards. Menschen sollten zu Wort kommen, insbesondere Prominente. | |
In Form von Interviews zum Beispiel, oder Kurzstatements in der Rubrik „Das | |
gibt zu denken“. Persönlich geprägte Kolumnen wurden eingeführt, in denen | |
oft das Wort „Ich“ vorkam. Und ein „Talk of the Town“, in dem politische | |
Themen auch mal „quergebürstet“ werden sollten. Das alles aber tazzig und | |
politisch und links, aber anders. | |
Das kam nicht gut an. | |
Damit könnte die Geschichte schon zu Ende erzählt sein, aber taz2 gibt es | |
trotz zahlreicher Forderungen nach Abschaffung, Einstampfung, Auflösung und | |
sonstiger Vernichtung noch immer. Und hat sich fortgepflanzt. Die sonntaz | |
zum Beispiel, das erste Modul der mittlerweile komplett neuen | |
Wochenendausgabe, war ein direkter Abkömmling der taz2. Und insbesondere in | |
den kleineren Rubriken wurden Ausdrucksformen von taz.de lange vor dessen | |
Einführung vorweggenommen. Das schnelle, bisweilen auch mal Kurzatmige | |
statt Ausgeruhte. Produkt- und Konsumthemen, das Spielerische. | |
Wie konnte es zu dieser Fortpflanzung kommen? | |
Es war ein Krieg. Genauer gesagt: Ein Kinderkreuzzug, bestückt mit | |
ProtagonistInnen der Generation Golf – mein damaliger Ressortleiter fuhr | |
zumindest einen, der fast auseinanderfiel und morgens zuverlässig im | |
Halteverbot vor dem taz-Gebäude stand, wenn ich meinen Dienst antrat. | |
Ein Krieg, den ich zunächst nicht verstand, wohl aber hatte ich schnell | |
begriffen, das man stets auf Helm und Splitterweste achten sollte. | |
Nach meiner ersten „Blattkritik“ im Namen von taz2 litt ich wochenlang | |
unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Eigentlich hatte ich gedacht, | |
dass ICH der Kritiker auf der morgendlichen Redaktionskonferenz sein | |
sollte, aber umgekehrt wurde dann schließlich ein Schuh daraus. | |
UNTERKOMPLEX war noch einer der höflicheren Begriffe, mit denen von nun an | |
zu rechnen war. Stets lief man Gefahr „hinter den Wissenstand | |
zurückzufallen“, „soziologisch falsch“ zu argumentieren und überhaupt | |
Zusammenhänge nicht zu erkennen, weil man eben die letzten zehn Jahre nicht | |
in einem palästinensischen Flüchtlingscamp im Libanon verbracht hatte, | |
sondern irgendwo beim Studium. „Was, Du hast studiert?“ fragte mich dann | |
eines Tages ein Kollege. Was hätte ich sagen sollen? „Nein, ich habe eine | |
Friseurlehre gemacht und dann hat mich der Chefredakteur beim Gokart-fahren | |
gecasted“? | |
Warum grüßten die KollegInnen auf der gleichen Etage nicht? Warum wurden | |
einem Türen vor der Nase zugeknallt? Wieso waren nie Texte von anderen | |
Redaktionsmitgliedern da, sondern immer nur Weißraum? | |
Ich wusste es nicht. Ich war froh, im Bunker zusammen mit den anderen | |
Kindern aus dem Kreuzzug einigermaßen in Sicherheit zu sein, dafür war ich | |
bereit, jedes Loch „vollzuschreiben“. | |
Der Bunker bestand aus einem Raum im vierten Stock, ohne eigenes Fenster, | |
indem wir wie in einer Legebatterie aufgereiht saßen. Es gab einfach keinen | |
Platz für das Neue und natürlich auch kaum Geld im Etat. Dafür rauchten wir | |
alle Kette. | |
Und ich muss sagen: Es war ein großartiges Abenteuer. Jeden morgen trafen | |
wir uns und überlegten fieberhaft, welche Themen wir heute aufgreifen | |
könnten. Schon am Abend, vor dem schlafen gehen, hatte ich mir in der Regel | |
Notizen gemacht, über Ideen gebrütet. Es gab, so hieß es seinerzeit | |
raunend, das Bestreben, uns „auszuhungern“. Ohne Texte, ohne Mitarbeit der | |
Kollegen würden wir irgendwann aufgeben. | |
Auf diesem Weg hatten wir die Möglichkeit, wirklich alles zu machen, auch | |
wenn uns manchmal die Köpfe rauchten, die dann abends mit viel Bier | |
„abgelöscht“ werden mussten. Und auch dann ging es wieder um: die taz, | |
taz2, was könnte eine „Seite 13“ sein und was ein „Talk“. | |
Zwischendrin kamen, neben Hassmails von erbosten LangzeitleserInnen („Dafür | |
wurde die taz nicht gegründet“, „Bild-Zeitungsniveau“), Fragen von | |
interessierten Journalistikstudenten oder Medienwissenschaftlerinnen über | |
den Ressortmailverteiler: „Was genau ist eigentlich taz2?“. Tja, so richtig | |
wussten wir das auch nicht, und genau das war ja das Aufregende. | |
Erst später begriff ich, was unter den teilweise hart geführten | |
Auseinandersetzungen lag. Taz2 war etwas ganz Neues, ein Experimentierfeld, | |
ein Ort der Freiheit – und viele der KollegInnen im Haus hätten sich | |
vielleicht gewünscht, dabei zu sein, um dort ihren Traum von Journalismus | |
zu leben. Ein politisches Feuilleton, Kulturseiten mit einem völlig neuen, | |
interessanten Pop-Zugang, ein Tummelplatz für Humor und Satire. Schlicht: | |
Eine Wundertüte auf zwei Seiten, und die ist sie dann ja auch geworden, | |
nachdem sich irgendwann die ersten Aufregungen gelegt hatten. Die taz ist | |
eben eine Ansammlung von Idealisten – und manchmal wirkt sie wie ein | |
permanent tagender Volkskongress. Das müssen wir machen! So geht das auf | |
keinen Fall! Es ist ein Strukturdefizit! Bei all den Konflikten ging es | |
womöglich gar nicht darum, dass „wir“ etwas jünger waren; vielleicht war … | |
gar kein Kinderkreuzzug. Eher ein Glaubenskampf um den Journalismus der | |
Zukunft. | |
Einige der KollegInnen aus der Frühphase von taz2 arbeiten nicht mehr für | |
die taz, einer von ihnen ist leider verstorben: Christian Semler. | |
Nein, offiziell war er nicht in der taz2-Redaktion, aber zusammen mit | |
Helmut Höge saß er als wohlwollender „Senior“ im Raum direkt neben unserer | |
Legebatterie. Immer freundlich, immer gesprächsbereit. Und er hat gerne und | |
bereitwillig für uns geschrieben. Und weil das hier einer dieser | |
notorischen „Ich“-Texte ist, sage ich: Ich vermisse ihn, und seine | |
Unterstützung hat mich seinerzeit immer ermutigt. Selbst arbeite ich in der | |
taz nun ungefähr so lange, wie es taz2 gibt. Und jung ist man in dieser | |
Zeitung heute mit 25, denn in diesem Alter kommen die jungen KollegInnen | |
von der Journalistenschule oder von der Universität. | |
Für die taz2 bin ich nun mit vierzig Jahren wirklich viel, viel zu alt. Und | |
schon wieder (oder immer noch?) ist Medienkrise. Aber als sonntaz-Redakteur | |
habe ich die Freude, mit vielen dieser jungen KollegInnen zusammen zu | |
arbeiten. | |
Dass es einen Altersunterschied gibt, merke ich vor allem, wenn sie mit | |
großem Enthusiasmus völlig neue, existenziell wichtige Themen vorschlagen, | |
die mir seltsam bekannt vorkommen – weil ich selbst schon darüber | |
geschrieben habe, weil ich selbst schon entsprechende Texte produziert | |
habe. Redundanz gehört in einem gewissen Rahmen zum Geschäft, aber umso | |
besser, wenn man von Menschen umgeben ist, die neugierig sind, | |
begeisterungsfähig. Über bestimmte Themen kann und muss man immer wieder | |
neu schreiben. Sonst hätte man es ja in punkto „Liebe“ bei Shakespeares | |
Romeo und Julia belassen können. | |
Und wie läuft es nun mit der sonntaz? Man kann es sich ja eigentlich denken | |
– wie seinerzeit bei taz2. Immer noch etwas „Neues“. Unterkomplex. Hinter | |
dem Wissenstand. Unsägliche Personalisierung statt Struktur. Dumm und zu | |
jung. Zu viel Weißraum und das alles auch noch in Farbe! | |
Farbe? Nein, Farbe gab es zur Gründungszeit von taz2 nicht. Wir hatten ja | |
nichts! | |
23 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
MARTIN REICHERT | |
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