# taz.de -- Da ist noch immer Echo in mir | |
> AUGENBLICKE Sinnlicher kann sich ein Schauspieler nicht ins Gedächtnis | |
> brennen: Otto Sander tanzt | |
VON WALTRAUD SCHWAB | |
Eine geliehene Stimme, ein Rausch der Bewegung, ein Blick – was für ein | |
Glück, wenn es mehr nicht braucht, um berührt zu werden, um einverstanden | |
zu sein. Da ist einer, der bewegt sich für andere, der spricht für andere, | |
der schaut auf die Welt und im Zurückschauen erkennt man sich selbst. Das | |
konnte Otto Sander: Auf diese Weise etwas geben, das an der Luft klebte | |
zwischen ihm und den anderen – die anderen: Ich-Du-Er-Sie-Es-Wir-Ihr-Sie – | |
und sich verbinden mit allen unsichtbar. Eine Sekunde vielleicht, ein | |
Augenaufschlag. Ein Wort, eine leise Drehung des Körpers, hingeworfene | |
Hingabe. | |
Irgendetwas davon bleibt hängen. Ein Echo der Luft, die sich bewegte. | |
Vielleicht. | |
Und jetzt, nach seinem Tod? | |
Da ist noch immer Echo. In mir. | |
Geblieben seit 1979, seit „Death Destruction & Detroit“, einem | |
Theaterstück, 16 Szenen, fünfeinhalb Stunden in der Berliner Schaubühne | |
damals noch am Halleschen Ufer, geschrieben und inszeniert von Robert | |
Wilson. Ich habe es ein paar Mal gesehen. Worum es ging? Um Verzauberung. | |
Um Wirklichkeit jenseits der Wirklichkeit. Alles ist da, der Dinosaurier | |
und der Astronaut und dazwischen Fragmente des Alltags. Was genau | |
geschieht, ich habe es vergessen. Einzig eine Szene ist mir geblieben, | |
jene, in der Otto Sander – war er es wirklich? – eine dreiviertel Stunde | |
auf die Klaviermusik von Keith Jarrett tanzte, immer um sich kreisend, ein | |
Derwisch, ein Weltenweltmensch, Proton, Neutron, Lepton, einer der durch | |
die Haut ging, meine, Gegenwart in der Auflösung, und ich erinnere mich, | |
dass er die Zeit wegtrug als tote Taube auf einem Tablett. Nicht wirklich. | |
Ich schreibe das so, damit die Zeit weggetragen wird. Dass noch 18 weitere | |
Menschen getanzt haben sollen – geschenkt. Ich erinnere mich nicht. | |
Der Theaterkritiker der Zeit schrieb: „Wilsons Theater erzählt keine | |
Geschichte, es löst welche aus.“ Und wenn es das tue, dann sei alles | |
möglich, denn in die neuen Geschichten fließen „Erinnerungen, | |
Halberinnerungen und Lügen“. | |
Ich habe mir damals Jarretts Schallplatte gekauft. Und nun wieder gehört. | |
Die Musik ist langsamer als in meiner Erinnerung, weil in den 34 Jahren | |
seit der Aufführung alles schneller wurde. | |
Seit ich „Death Destruction & Detroit“ gesehen habe, seit ich Otto Sander | |
so losgelassen einfangend vor sich hin tanzend auf der Bühne sich drehen | |
sah, sekundenlang, minutenlang, viertelstundenlang, halbstundenlang, ohne | |
einstudierten Schritt, schwingt es in mir. Diese Vibration. Sinnlicher kann | |
sich ein Schauspieler nicht ins Gedächtnis brennen. | |
Die US-amerikanische Lyrikerin Adrienne Rich veröffentlichte etwa zu der | |
Zeit, als das Theaterstück entstand, ein Gedicht. „Love in the museum“ | |
heißt es. „Kunst verlangt nach Distanz“, schreibt sie. „Ach lasse mich | |
immer die Genießerin deiner Perfektion sein. Bleibe dort, wo der Raum der | |
Galerie ruhig fließt zwischen deiner Pose und meiner Betrachtung – damit | |
nicht eine einzige unvollkommene Geste Forderungen stellt, die so | |
beunruhigend sind, wie die Berührung von menschlichen Händen.“ Sanders | |
Bewegungen waren unvollkommen, das hat ihnen die Distanz genommen. Deshalb | |
haben sie berührt. Richs Verse habe ich damals ins Programmheft des | |
Theaterstücks – auch das habe ich noch – geschrieben. | |
An einer anderen Stelle im Stück „Death Destruction & Detroit“ wiederholte | |
eine Schauspielerin immer wieder den einen Satz: „Hier ist mein | |
Presseausweis, was beweist das?“ „Hier ist mein Presseausweis, was beweist | |
das?“ | |
Hier also ist mein Presseausweis, Nummer 21-01-21791, ausgestellt von | |
Verdi. Es beweist nichts. | |
Bei anderer Gelegenheit hat mich Otto Sander noch einmal berührt. Mit | |
seinen Augen. Eine Preisverleihung war es, er schaute, nickte. Der Blick | |
reichte, um Intimität herzustellen, obwohl ich ihn nicht kenne, nie in der | |
Paris-Bar war. Sein Ausgeatmetes ist mir fremd. Als ich ihn vor einem Jahr | |
ungefähr um diese Zeit interviewen wollte, das Thema damals: Ortlosigkeit, | |
hatte er ein gebrochenes Bein. Besser das Bein als das Herz. | |
21 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
WALTRAUD SCHWAB | |
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