# taz.de -- Die Vernichtung | |
> SHOAH Chronik eines angekündigten Völkermords: Was 1941 bis 1945 in Polen | |
> und dem Generalgouvernement über die Auslöschung der polnischen Juden | |
> bekannt war | |
VON STEFAN REINECKE | |
Am 7. August 1942, einem sonnigen Tag in Warschau, versuchte der polnische | |
Schriftsteller Stanislaw Rembek vergeblich, etwas Essbares zu besorgen. | |
Danach schrieb er in sein Tagebuch, dass er gehört habe, dass in dem | |
hundert Kilometer entfernten Dörfchen Treblinka „die Warschauer Juden | |
beseitigt werden. Die Leichen lädt man in großen Gruben ab, die von Baggern | |
ausgehoben werden“. Seit dem 22. Juli wurden täglich Tausende deportiert | |
und in Treblinka getötet. | |
Seit dem Frühjahr 1942 waren die Deutschen dazu übergegangen, Juden nicht | |
nur in Gettos zu sperren, auszuhungern, in Massenexekutionen hinzurichten, | |
sondern auch in Tötungsfabriken zu vernichten. Diese lagen nahe an | |
Bahnlinien, aber doch abgelegen, in Dörfern und bei Kleinstädten, deren | |
Namen kaum jemand kannte, Sobibor, Treblinka, Belzec. Der industrielle Mord | |
sollte im Dunkeln stattfinden, er galt als geheime Reichssache. Die Opfer | |
sollten erst in den Gaskammern begreifen, was geschah. Doch die | |
abgeschirmten Mordfabriken blieben im Generalgouvernement zwischen Krakau | |
und der Ukraine nicht verborgen. | |
Der Band 9 der Quellenedition zur „Verfolgung und Ermordung der | |
europäischen Juden“ zeichnet in knapp 300 Dokumenten den Mord an zwei | |
Millionen jüdischen Zivilisten im Generalgouvernement nach. Die Texte sind | |
chronologisch geordnet, von August 1941 bis Februar 1945. Sie zeigen die | |
Perspektive von Täter, Opfern, Zuschauern. Man liest die kalte Sprache der | |
deutschen Verwaltung und von SS-Behörden, auch ein paar Augenzeugnisse | |
deutscher Soldaten. | |
Im Zentrum aber stehen die Drangsalierten in den Gettos und ihr Versuch zu | |
erkennen, was geschieht. Es wird deutlich, dass es dem jüdischen und | |
polnischen Untergrund gelang, die verschiedenen Etappen der Vernichtung | |
ziemlich rasch und präzise zu erfassen. Die Opferzahlen wurden mal zu hoch | |
oder zu niedrig angegeben, aber im Kern wurde das Geschehen zutreffend | |
beschrieben. Man protokollierte Berichte von Überlebenden, die zufällig | |
Massenexekutionen entkommen waren, schrieb nieder, was Wachleute der | |
Todeslager in polnischen Dörfern erzählten und was Juden, denen die Flucht | |
aus Todeslagern gelungen war, gesehen hatten. | |
Friedrich Zalman, Mitglied des jüdischen Bunds, verfasste am 20. September | |
1942 einen detaillierten Bericht, wie die Ermordung in Treblinka vonstatten | |
ging. „Das ‚Bad‘ nimmt alle 15 Minuten 200 Menschen auf, es können also | |
20.000 Menschen an einem Tag darin umgebracht werden.“ Über die Tötungsart | |
gab es verschiedene Ansichten: Einige glaubten, dass in dem „Bad“ mit | |
Strom, andere, dass mit Gas getötet wurde. Dass die Todgeweihten keinen | |
Widerstand leisteten, erklärte sich Zalman durch die Umstände: Der Terror | |
in Gettos und das allgegenwärtige Sterben in den Zügen habe „die Menschen | |
gebrochen“. | |
Auch polnische Widerstandsgruppen waren über die Massenmorde informiert. | |
Die polnische Exilregierung in London erfuhr aus dem Generalgouvernement im | |
Herbst 1942, dass „12–15.000 Juden täglich mit Zügen nach Belzec“ | |
transportiert und dort „mit Gas erstickt“ wurden. Man erkannte auch das | |
Historische der Tat. Die polnische Untergrundregierung erklärte im | |
September 1942, dass „dieser Massenmord beispiellos ist, vor ihm verblassen | |
alle aus der Geschichte bekannten Grausamkeiten“. | |
Laute Proteste der polnischen Exilregierung in London waren allerdings erst | |
ab dem Frühjahr 1942 vernehmbar gewesen. Auch danach sprengte der | |
bewaffnete polnische Widerstand die Bahngleise nach Treblinka und Sobibor | |
nicht, aus Furcht vor dem Terror der Deutschen. | |
Chronist und scharfsinniger Beobachter der Vernichtung war der marxistische | |
Intellektuelle Emanuel Ringelblum. Er und seine Mitstreiter dokumentierten | |
seit 1940 das Leben im Warschauer Getto, sammelten Tagebücher, | |
Konzertplakate, Briefe, Gedichte, Straßenbahnfahrkarten. Im Jahr 1942 und | |
1943 vergrub er 25.000 Seiten des Archivs in zehn Kisten – eine | |
Flaschenpost gegen die von den Nazis geplante Ausradierung des Judentums | |
aus dem Gedächtnis. Rund 40 der 300 Dokumente in dem Band stammen aus dem | |
Ringelblum-Archiv, manche sind hier erstmals auf Deutsch veröffentlicht. | |
Die Sammlung war nicht nur an künftige Generationen adressiert. Vor allem | |
wollte Ringelblum via polnischer Exilregierung die Weltöffentlichkeit über | |
das Morden informieren. Als die BBC am 26. Juni 1942 erstmals über die | |
systematischen Morde berichtete, notierte Ringelblum euphorisch in seinem | |
Tagebuch: „Wir haben dem Feind einen heftigen Schlag versetzt“ und den Plan | |
der Nazis, „das Judentum im Geheimen zu vernichten, entlarvt“. Vielleicht, | |
so die wild keimende Hoffnung, werde England „uns retten“. Doch die | |
alliierten Bombengeschwader am Himmel über den Gleisen nach Treblinka | |
blieben Wunschtraum. | |
Im Herbst 1943 verfasste Ringelblum eine Reflexion, warum die Juden | |
sehenden Auges in den Tod gegangen waren. Hätten sich im Warschauer Getto | |
alle „mit Messern, Brechstangen, Schaufeln und Hackbeilen auf die Deutschen | |
gestürzt“, wäre die Katastrophe geringer ausgefallen. Für „Kardinalfehle… | |
hielt er die Zusammenarbeit der Judenräte mit den Nazis und die zögerliche | |
Informationspolitik der polnischen Exilregierung. Für „normal denkende | |
Menschen“, so Ringelblum, war es kaum begreiflich, dass „eine sich für | |
europäisch haltende Regierung Millionen tötet, nur weil sie Juden sind“. Es | |
war auch das Unfassbare der Tat, das Widerstand so schwierig machte. | |
■ „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das | |
nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Polen: Generalgouvernement | |
August 1941–1945“. Band 9, bearb. v. Klaus-Peter Friedrich, Oldenbourg | |
Verlag, München 2013, 878 S., 59,95 Euro | |
■ Der Band wird am Montag um 18.30 Uhr in der Stiftung Denkmal für die | |
Ermordeten Juden Europas in Berlin vorgestellt | |
■ Der 27. Januar ist internationaler Holocaust-Gedenktag. Die Knesset wird | |
am Montag Auschwitz besuchen. Im Bundestag wird des Endes der Belagerung | |
Leningrads durch die Wehrmacht vor 70 Jahren gedacht, es wird der russische | |
Schriftsteller Daniil Granin reden. | |
25 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
STEFAN REINECKE | |
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