# taz.de -- Die Parade der Toten und Untoten | |
> HAITI Am 23. August jährt sich zum 219. Mal der Aufstand gegen die | |
> Sklavenhalter in Haiti. In den Masken des Karnevals findet die Geschichte | |
> der Gewalt ihr Echo. Der Fotoband „Kanaval“ der englischen Filmemacherin | |
> Leah Gordon zeigt den Karneval in der Stadt Jacmel | |
VON JULIAN WEBER | |
Haiti bleibt hierzulande – auch nach dem verheerenden Erdbeben vom 12. | |
Januar 2010 – ein blinder Fleck der Geschichte. Auf ein Land, das sich seit | |
200 Jahren im Ausnahmezustand befindet, lassen sich keine radikalen | |
Sehnsüchte projizieren, wie sie etwa der lakondonische Urwald und die darin | |
gegen die Staatsmacht aktive mexikanische Guerilla EZLN befeuern. | |
Der französische Ethnologe Michel Leiris konstatierte bereits 1948, dass | |
die negative Berichterstattung über haitianische Voudou-Zeremonien ihn an | |
das Vorurteil erinnerte, Juden würden rituelle Morde begehen. An den | |
Vorurteilen gegen Haiti hat sich seither nur wenig geändert. Der letzte | |
deutsche Intellektuelle, der mit seinem Interesse für das Schicksal des | |
Landes auch bekannt wurde, war der Schriftsteller Hubert Fichte, und der | |
ist bereits 1986 verstorben. | |
Wie eine Aktualisierung von Fichtes poetisch-anthropologischen Forschungen | |
in seinem Montageroman „Xango“ mutet der Foto- und Essayband „Kanaval. | |
Vodou, Politics and Revolution on the Streets of Haiti“ an. Die | |
Herausgeberin, die britische Fotografin und Filmemacherin Leah Gordon, hat | |
darin Fotos versammelt, die sie seit 1991 während des alljährlich im | |
Februar stattfindenden Karnevals in der haitianischen Hafenstadt Jacmel | |
gemacht hat. Flankiert werden ihre Schwarzweiß-Aufnahmen von Essays | |
verschiedener Autoren und kurzen „Oral Histories“, in denen Gordon | |
Bedeutungen der Karnevalsverkleidungen und -Masken von ihren Trägern | |
erklären lässt. | |
## Eine Lücke im Diskurs über Haiti schließen | |
Gordons großzügig gestaltetes Fotobuch ist beim Londoner Plattenlabel Soul | |
Jazz erschienen, das sich der Archivierung afro-amerikanischer und | |
-karibischer Musikkulturen schon lange verschrieben hat. Das Buch schließt | |
nun eine Lücke im Haiti-Diskurs. | |
Die Fertigstellung von Gordons Fotoband wurde von dem schweren Erdbeben im | |
Januar 2010 überschattet. Fast alle Kirchen und Wohnhäuser sind dabei | |
eingestürzt, das öffentliche Leben kam völlig zum Erliegen. Das einzige, | |
was in Haiti verschont geblieben sei, sind die Grabsteine auf den | |
Friedhöfen, schreibt die Autorin im Vorwort. | |
Tote und Untote spuken durch die haitianische Geschichte seit den Zeiten | |
des Sklavenaufstands, seit am 23. August 1791 ein Voudou-Priester namens | |
Boukman während einer Zeremonie im Wald von Bwa Kayman ein schwarzes | |
Schwein rituell opferte und mit seinem Blut „liberté ou morte“ schrieb, | |
„Freiheit oder Tod“. Sklaven stürmten daraufhin zurück in ihre Plantagen, | |
meuchelten die Besitzerfamilien und erhoben sich zu Tausenden in einem | |
blutigen Aufstand gegen die Kolonisatoren. Als erstes afroindianisches Land | |
in der neuen Welt erklärte Haiti 1804 seine Unabhängigkeit von Frankreich. | |
Ein wichtiges, wenn auch wenig beachtetes Ergebnis der Französischen | |
Revolution. | |
Hubert Fichte stellte in „Xango“ einen Zusammenhang zwischen den Riten des | |
Voudou und der Geschichte des Landes her. In der synkretistischen Religion, | |
deren Phänomenen er auch in Brasilien und auf der Karibikinsel Trinidad | |
nachging, erkannte der Schriftsteller psychodramatische und ästhetische | |
Gegenbewegungen zur Herrschaft der Reichen. Zu Fichtes Lebzeiten war das | |
der Diktator Jean Claude „Baby Doc“ Duvalier. Fichte sah in den | |
übernatürlichen Erscheinungen des Voudou einen raffinierten Kommentar zum | |
verloren gegangenen Erbe der Kolonialgeschichte. Voudou definierte er als | |
„Vermischung afrikanischer Religionen mit Katholizismus, Freimaurerei, | |
Spiritismus und möglicherweise einigen Gebräuchen der fast ausgerotteten | |
indianischen Urbevölkerung“. | |
Beim Karneval von Jacmel, so zeigt Leah Gordon, erinnern die furchterregend | |
aussehenden „Lanse Kods“ (Seilwerfer) an die Zeit der Sklaverei. Sie tragen | |
Kapuzen und Stierhörner, haben ihre nackten Oberkörper mit schwarzer Kohle | |
und glänzendem Zuckerrohrsirup eingerieben. Statt von Gürteln werden die | |
zerfetzten Hosen von Seilen zusammengehalten. Die Gestalten sind so düster, | |
schreibt Katherine M. Smith in Gordons Buch, sie besetzen einen negativen | |
Raum. Gelegentlich halten die Lanset-Kods an und machen zum Kommando einer | |
Trillerpfeife Liegestütze: ein Zeichen von Stärke. „Seile symbolisieren die | |
Ketten, mit denen wir gefesselt waren. Im Karneval lassen sich die Menschen | |
gerne einschüchtern, und wir können das am besten“, schildert der | |
Seilwerfer Salnave Raphael. Wenn sie mit ihren klebrigen Körpern und | |
schnalzenden Seilen durch die Straßen jagen, werden die Peitschenhiebe und | |
der unmenschliche Horror der Zwangsarbeit wieder lebendig. | |
## Die Kommentierung der Traumata | |
Andere Kostümierungen erinnern an die haitianische Gegenwart: weiß gekalkte | |
Gespenstergesichter symbolisieren UN-Blauhelmsoldaten und ihre weißen | |
Militärfahrzeuge, grimmige Crossdresser wandeln als Huren durch die Stadt, | |
dabei ein Schild auf dem Rücken tragend mit der Botschaft „Genyen SIDA“ | |
(Habe mich mit Aids infiziert). | |
Der Karneval in Haiti war schon immer existenzialistischer, aber auch | |
politischer als die sexualisierten Körperparaden am Karneval von Rio oder | |
die feierlich-traditionellen Musikumzüge von New Orleans. Jede Maskierung | |
kommentiert andere Traumata der haitianischen Geschichte. Man sieht das | |
deutlich an der „Chaloska“-Figur, die Eugene Lamour verkörpert. Chaloska, | |
kurz für Charles Oskar, war ein korrupter Polizeioffizier, der Anfang des | |
20. Jahrhunderts ein Massaker an Gefängnisinsassen befahl und selbst | |
Häftlinge tötete, woraufhin er von der wütenden Bevölkerung gelyncht wurde. | |
Lamour trägt einen napoleonischen Zweispitz als Kopfbedeckung, sein Mund | |
ist hinter einem monströsen Gebiss verborgen. Es sind monströs wirkende | |
Stierzähne, die er bleckt. Zusammen mit dem übergroßen Anzug, der von | |
gezackten Fantasiestreifenmustern geschmückt ist, in dem er steckt, wird er | |
zum Freak. Chaloska tritt meist im Verbund mit anderen Figuren auf, mit | |
„Master Richard“, einem Wohlhabenden, der die Justiz mit Bündeln von | |
Papiergeld besticht, und dem Gefängnisarzt „Dr. Calypso“, der gefälschte | |
Bulletins von Armen und Gefängnisinsassen erstellt. | |
Die basisdemokratische Kultur des Karnevals war über Jahrzehnte Schutzraum | |
vor dem Horror der Diktatur und ist noch immer ein Ort für den | |
spielerischen Umgang mit dem Erbe der Sklaverei. Am 23. August jährt sich | |
der Aufstand gegen die Sklavenhalter zum 219. Mal. | |
21 Aug 2010 | |
## AUTOREN | |
JULIAN WEBER | |
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