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# taz.de -- Mit der Kunst auf Augenhöhe
> Das Festspielhaus von Dresden Hellerau feierte seine Wiedereröffnung und
> die Ankunft der Forsythe Company mit dem Stück „Human Writes“. Nach der
> langen Bauzeit hofft die Stadt, nun aufzuschließen zu den Zentren der
> zeitgenössischen Kunst
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Was für ein seltsamer Ort: Der Sandplatz vor dem Giebelportal des
Festspielhauses in Dresden Hellerau hat noch immer die Anmutung eines
Exerzierplatzes. Tatsächlich diente er die längste Zeit seiner Geschichte
militärischer Nutzung. Nur drei Jahre lang, von 1911 bis 1914, war das
Haus, das der Architekt Heinrich Tessenow in schlichtem Neoklassizismus und
sehr wohltuenden Proportionen entworfen hatte, Anziehungspunkt für Künstler
aus ganz Europa gewesen, bevor erst deutsche Polizei und dann russische
Soldaten für viele Jahrzehnte einzogen. Der Ort wirkt noch immer wie aus
der Stadt und der Zeit herausgefallen.
Und doch haben hier viele Bürger-Vereine, Künstler und Initiativen seit
1992, der Rückgabe des Festspielhauses an die Stadt, die Fahne der Kultur
hochgehalten und im Sommer zumindest die provisorisch gesicherten Räume
bespielt. Lange brauchte die Stadt, bis sie den Gedanken einer kulturellen
Nutzung zu ihrem eigenen machte. Dafür warf sie sich letzte Woche stolz in
die Brust, mit großer politischer Besetzung. Kulturstaatsminister Bernd
Neumann, der Ministerpräsident von Sachsen, Georg Milbradt, und Dresdens
Bürgermeister Lutz Vogel: Sie allen sahen mit der „Wiedereröffnung“ Dresd…
zurückkehren auf die Landkarte der Zentren zeitgenössischer Kunst. Zwei
Herren waren eingeladen, die für die kommenden Konzepte und Inhalte stehen:
Udo Zimmermann, der Intendant des „Europäischen Zentrums der Künste“, das
hier jetzt zu arbeiten beginnt mit einem Programm zeitgenössischer Musik,
und der Choreograf William Forsythe. Gewartet auf diesen Augenblick, das
Festspielhaus wieder nutzen zu können, hatten sie alle lang.
Forsythe’ Tänzer zeigten das erste Programm nach der „Wiedereröffnung“.
Zwei Stunden bevor ihre Performance „Human Writes“ beginnt, machen sie
Pause auf den flachen Stufen vor den Pfeilern des Portals. Sie bringen ihre
Laptops heraus und suchen um das Haus laufend Funkkontakt. Schön wäre es,
gäbe es schon Wohnmöglichkeiten für die Künstler, die hier ja nicht nur
auftreten, sondern auch produzieren und dabei in neue Kooperationsprojekte
zwischen den Sparten geraten sollen. Geeignet wären die alten
Kasernengebäuden an der Platzkante; aber da ist bisher nur Verfall und
weder öffentliche noch private Gelder für den Umbau in Sicht. So pendelt
die Company mit einem alten Schulbus zwischen hier und einem Hotel im
nächsten Vorort.
Es ist eine Ankunft in kleinen Schritten. Seit 2004 wird die Forsythe
Company durch die Landeshauptstadt Dresden und den Freistaat Sachsen sowie
die Stadt Frankfurt am Main und das Land Hessen gefördert. Seitdem besteht
der Plan, mit ihren Stücken und bis zu dreißig Vorstellungen im Jahr auch
dem historischen Festspielhaus wieder zu einer Bedeutung zu verhelfen, die
seiner Legende als einer Wiege der Moderne entspricht. Forsythe’
Entscheidung für Dresden war für das Vorankommen der Wiederbelebungspläne
von Hellerau und die Mobilisierung der Mittel keine Kleinigkeit. Das Profil
seiner Arbeit ist bekannt und schon fassbarer als die Projekte Zimmermanns.
Elf Millionen Euro haben Bund, Freistaat, die Stadt Dresden und viele
Stiftungen bisher aufgebracht für die Rekonstruktion und eine neue
Theatertechnik. Doch wer um das Haus rumläuft, sieht, dass vieles noch
nicht fertig ist: am nördlichen Portal, eigentlich ein genauer Spiegel des
südlichen, überdeckt fleckiger und rissiger Putz die Pfeiler, die auf der
anderen Seite von den Schichten ihrer Vergangenheit befreit wurden.
Aber dennoch, mit der Performance „Human Writes“ hat die Forsythe Company
in dem ungewöhnlichen Theatersaal ein Stück gezeigt, das viele
Anknüpfungspunkte zur Geschichte von Hellerau bietet. Denn es nimmt den
Gedanken, nach neuen Formen der Kommunikation zwischen Künstlern und
Zuschauern zu suchen, sehr ernst – gerade das war ein Kerngedanke in den
Utopien der Erbauer. In „Human Writes“ werden die Zuschauer um Mithilfe
gebeten: Vierzig Tische stehen in dem Raum, an denen vierzig Tänzer – von
der Forsythe Company, der Dresdner Palucca Schule und von D.A.N.C.E, einem
europäischen Tänzernetzwerk – arbeiten. Sie schreiben an einem Text, jeder
ein paar Worte auf seinem Tisch, Zitate aus der Erklärung der
Menschenrechte von 1948, übersetzt in viele Sprachen. Das Schreiben geht
sehr mühsam voran, denn sie setzen den ganzen Körper als Instrument ein und
erzeugen viele Hindernisse, bis die Buchstaben geformt sind. In diesen
Prozess wird das Publikum verwickelt.
Ein Tänzer bittet zum Beispiel, sein Kinn mit zerriebener Kohle zu
bestreuen, dann seinen Kopf in die Hände zu nehmen und mit dem Kinn die
Linien eines Buchstaben nachzuzeichnen. William Forsythe, der selbst an
einem der Tische mit schwarzer Kohle auf weißer Fläche ackert, fragt einen
Zuschauer, seine Hände immer dort, wo der Stift auf den Tisch trifft,
wegzuziehen und so bringt er den Gast, der seinen Bewegungen folgen muss,
in einen Kurs des Schlingerns, Drängelns und Ausweichens. Andere Tänzer
bilden mit Zuschauern lange Ketten, lassen sich halten und ziehen, und der
vorderste muss versuchen, auszureißen und vorzuschießen, um seine
Schreibfläche zu erreichen. Manche Tänzer sitzen auf den Tischen, fest in
einer Position, den Stift umklammert, und bitten mehrere Zuschauer, durch
Rütteln am Tisch sie und ihren Stift die Konturen eines Wortes lang zu
bewegen.
Was all diesen Ansätzen gemeinsam ist, ob man nun tatsächlich mitmacht oder
sich doch nur vorsichtig dazwischen bewegt, ist die Erfahrung von
Bewegungssteuerung und der Benutzung von Widerständen als kreatives Moment.
Man tut ständig etwas, was man sonst nicht machen würde, bricht aus dem
Schema vertrauter Haltungen, nicht nur des Zuschauens. Das ist zunächst
eine sehr tanzbezogene Erfahrung: „Human Writes“ bringt einen tatsächlich
sehr nahe, näher als jedes andere Stück, an die Innenperspektive dessen,
der tanzt. Gleichzeitig ist man stets so in das Geschehen verwoben, dass
kein Überblick mehr möglich ist, sondern immer nur die Details in der Nähe
erkennbar sind. Will man mehr, muss man sich weiterbewegen. Da könnte die
metaphorische Ebene zu greifen beginnen. Denn das Stück will auch davon
erzählen, dass der geschriebene Buchstabe des Menschenrechts noch längst
kein Garant seiner Umsetzung und Einhaltung ist.
Zugegeben: Diese symbolische Ebene ist eine um viele Ecken vermittelte
Sache. Zu erleben ist zwar die ständige Verkörperung von Verhinderung
einerseits und von Anstiftung zur kollektiven Verkettung andererseits, aber
der Bezug zu den Menschenrechten, deren Text ausgehängt nachzulesen ist,
bleibt vage. Dagegen lassen sich erstaunlich viele Bezüge zu den Utopien
vom Anfang der Moderne herstellen, an denen die Schüler der rhythmischen
Gymnastik in Hellerau, die ersten Ausdruckstänzer, Theaterreformer,
bildende Künstler und viele Literaten mitgearbeitet haben. In der
Allover-Bespielung des Theatersaals, in der Auflösung hierarchischer
Strukturen, in der Einbeziehung der Zuschauer, in der Nähe zur bildenden
Kunst und vor allem in der Thematisierung des Anspruchs auf Gleichheit
knüpft die Performance „Human Writes“ an viele der Wünsche und ästhetisc…
Konzepte der kurzen Blüte von Hellerau an. Gerade deshalb passt „Human
Writes“ so gut an diesen Ort. Aber im Gegensatz zu den Protagonisten des
Anfangs, zu denen Emile Jaques-Dalcroze und Mary Wigman gehörten, wird die
Forsythe Company von keinem kunstreligiösen Ansatz getrieben. Es geht ihr
nicht um Erlösung, nicht um Befreiung des Körpers von den Schäden der
Zivilisation oder eine Rückkehr zur Natur. Ihre Stärke liegt vielmehr
darin, den Körper auch als Ergebnis von Geschichte und Kultur zu lesen.
Nichts von einer sakralen Stimmung ist in dem hohen von Pfeilern
gegliederten Raum während ihrer Vorstellung zu spüren; eher fühlt man sich
wie in einer großen Werkstatt.
Forsythe machte den Anfang; ab jetzt ist wieder regelmäßig ein Programm in
Hellerau zu besuchen. Wenn die 20. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik
am 1. Oktober starten, ist hier einer der wichtigsten Spielorte; natürlich
stehen viele musikalische Raumerkundungen an. Ein wenig, meint Udo
Zimmermann, werde man das Provisorium der Zwischenzeit wohl vermissen, in
dem so viele Projekte vom Fu- ror getragen waren, ein Stück
Kulturgeschichte zu retten. Wahrscheinlich eine überflüssige Sorge – denn
so richtig fertig sieht der Ort noch immer nicht aus.
„Human Writes“, noch bis 15. September in Dresden Hellerau, Fr. ab 18.30
Uhr, Sa. + So. ab 17.30 Uhr
15 Sep 2006
## AUTOREN
KATRIN BETTINA MÜLLER
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