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# taz.de -- Streunend in die Zukunft
> Tänzer auf der Spree, Sänger in der Maschinenhalle, Bläser auf der
> Terrasse und Liebende auf dem Dach: Mit einer weit umherschweifenden
> Inszenierung eröffnete das imposante Radialsystem V, der „new space for
> the arts in Berlin“
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Die Augen bekommen viel zu tun, der Blick muss in Bewegung bleiben. Er
heftet sich eine Weile an das Boot, das auf der Spree mit zwei Tänzern und
einer Tuba an Bord am Radialsystem V vorbeifährt, und kehrt dann zurück zu
den Tänzern, die auf den Holzplanken der großen Terrasse ein Bläserquartett
der Akademie für Alte Musik begleiten. Kaum ist das Stück zu Ende, beginnt
auf einem schmalen Streifen Dach ein Paar seine kleine Liebesgeschichte.
Einige schauen weiter zu, andere folgen den verlockenden Stimmen, die aus
dem Treppenhaus nach außen dringen: Da lassen die Sänger des Ensembles
Vocalconsort Berlin die Töne eines gut 500 Jahre alten Liedes auf- und
niedersteigen.
So ging es zu auf allen Etagen des Radialsystems V, das am Donnerstag mit
„Dialoge 06 – Radiale Systeme“ zum ersten Mal als neue Bühne bespielt
wurde. 22 Tänzer von der Company Sasha Waltz & Guests, 23 Musiker und 8
Sänger streunten durch das Haus. Sie begannen in der ehemaligen
Maschinenhalle des alten Pumpwerks: Hier breitete sich James Tenneys „Form
1 In memoriam Edgar Varese“ im hohen Raum aus wie die Energie eines Motors,
mit dem man in die Zukunft fahren will. Man folgte ihnen bis zu den
wunderbaren Probenräumen, die in einem von gläsernen Lamellen umhüllten
Riegel auf Stützen über der Terrasse schweben. Überall spannten sich die
Bewegungen der Tänzer ein in ein Netz aus Linien, die auf das Haus zu und
wieder hinaus laufen in die Landschaft der Stadt.
So nahmen die Künstler stolz ein Haus in Besitz, das ihr eigenes mehr als
jedes andere werden könnte. Sie feierten dabei die Begegnung des Alten mit
dem Neuen, die in der Architektur des neu gestalteten Pumpwerks beginnt und
die programmatisch mit der Begleitung von Alter Musik durch
zeitgenössischen Tanz und der Interpretation von Neuer Musik auf
historischen Instrumenten fortgesetzt wurde.
Der Umbau durch den Architekten Gerhard Spangenberg konnte am Samstag zuvor
schon einmal bewundert werden, bei der Eröffnung, als die Architektur
selbst der Hauptdarsteller war und mehr als 5.000 Menschen sich das neue
Kunstzentrum anschauten. Es liegt in einer seltsamen Ecke der Stadt, an der
Grenze von Kreuzberg und Friedrichshain; tagsüber rauscht hier nur der
Verkehr, dicht auf der Holzmarktstraße, über die S-Bahn-Dämme und selbst
auf der Spree. Nachts erst wird sichtbar, dass die Club- und Ausgehszene
schon vielerorts in dem ausgedehnten Gewerbegebiet Fuß gefasst hat – aber
noch nirgendwo in einer so eleganten architektonischen Gestalt.
Der etwas geheimnisvolle Name „Radialsystem V“ stammt aus der
Abwassertechnik des 19. Jahrhunderts. Er gefiel Jochen Sandig und Folkert
Uhde, den beiden künstlerischen Leitern, so gut, weil er für das
Zusammenfließen von verschiedenen Strömen der Kunst stehen kann. Gerade das
wollen sie: Das Radialsystem ist ihre Fluchtburg aus dem
institutionalisierten Betrieb, der der Lust an neuen Bündnissen immer
wieder Grenzen setzt. Folkert Uhde ist Musikmanager und Dramaturg der
Akademie für Alte Musik, Jochen Sandig Produzent von Sasha Waltz. Das
Radialsystem ist ganz sicher die neue Bühne der Choreografin; auch wenn
betont wird, dass sie mit ihren Stücken weiter an der Schaubühne und
anderen Orten präsent bleibt und ins Radialsystem auch viele andere
Künstler kommen sollen. Unter anderem wird an Ausstellungen und
Videoinstallationen gedacht.
Das neue Haus strahlt Urbanität und Selbstbewusstsein aus – man kann sich
sehen lassen neben den großen Häusern der Stadt. Angesichts einer solchen
Neugründung beginnt mancher zu zweifeln an der Klage über den Kulturabbau.
Tatsächlich verdankt sich das Radialsystem aber weniger kulturpolitischen
Entscheidungen als vielmehr dem unternehmerischen Mut der beiden Gründer,
die gleichzeitig ein neues Finanzierungsmodell starten. Sie haben das Haus
für zehn Jahre von einem Investor gemietet, der den Umbau finanzierte. Über
eine gleichzeitig gegründete Stiftung flossen 1,2 Millionen Lottomittel in
den Ausbau der Bühnen- und Veranstaltungstechnik. Mit der Vermietung der
Räume an kunstnahe Industrien wie die Mode- und Designbranche – für
Tagungen, Kongresse oder Feiern – hoffen sie, die Kosten für den Betrieb
des Hauses einspielen zu können. Dass dies gelingt, kann man nur hoffen.
Der Tanz jedenfalls, das sagt dieses Haus schon jetzt, lässt sich nicht
mehr kleinmachen.
Dialoge 06, bis 30.9. im Radialsystem V, Holzmarktstr. 33. Infos unter
[1][www.radialsystem.de]
16 Sep 2006
## LINKS
[1] http://www.radialsystem.de
## AUTOREN
KATRIN BETTINA MÜLLER
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