# taz.de -- „Aufgeben akzeptiere ich nicht“ | |
> DER SUCHTMEDIZINER Chaim Jellinek hatte mit 13 seinen ersten Vollrausch | |
> und konsumierte Drogen, bis er 30 war. Heute behandelt er in seiner | |
> Neuköllner Praxis vor allem heroinabhängige Patienten mit Methadon. | |
> Jellinek wendet sich gegen eine Legalisierung von Drogen – und sagt | |
> zugleich, sie hätten schon mal sein Leben gerettet | |
INTERVIEW MANUELA HEIM FOTOS ROLF ZÖLLNER | |
taz: Herr Jellinek, Sie sind Arzt für Suchtkranke und waren jahrelang | |
süchtig. Erzählen Sie mir etwas über sich, damit ich weiß, wo Sie | |
herkommen. | |
Chaim Jellinek: Angefangen hat es in einem Nazi-Adenauer-Haushalt mit einem | |
sehr gewalttätigen, kriegskaputten Vater und einer Mutter, die aus ihrer | |
Rolle als Hausfrau und Mutter nie herausgekommen ist. Dort hinein wurde ich | |
geboren, ungeplant und ungewollt. | |
Das klingt wie der typische Beginn einer Drogenkarriere. | |
Ja, das passt auch. Ich hatte mit 13 meinen ersten Vollrausch und hab dabei | |
gemerkt: Die Sonne geht auf. Da war das erste Mal das Gefühl von Ganzheit, | |
von Zufriedenheit. Ich hatte etwas gefunden, das mir das Leben erträglich | |
macht. Von da an hab ich so ziemlich alles ausprobiert, was zu der Zeit auf | |
dem Markt war. | |
Zählen Sie mal auf … | |
Am Anfang Alkohol und Nikotin. Später habe ich mich zwischen der | |
Hippieszene in einem Teehaus und so einer proll-politischen Szene in einer | |
Rockerkneipe bewegt. In dem einen gab es Haschisch und Rohopium. In der | |
anderen Alkohol und Speed. | |
Wie alt waren Sie da? | |
Sechzehn. | |
Der Preis für den Rausch war Ihnen egal? | |
Ziemlich. Aber ich war auch immer gespalten: zwischen Absturz und sehr viel | |
Arbeit. Ich habe früh gemerkt, dass ich Arzt werden will. Nachdem ich | |
erstaunlicherweise das Abitur geschafft habe, bin ich zum Sanitätsdienst | |
der Bundeswehr, dann zurück nach Berlin und dort in die | |
Krankenpflegeschule. Im Wintersemester 1980 hab ich dann angefangen zu | |
studieren und in der ersten Veranstaltung die Leute kennengelernt, mit | |
denen ich dann ein paar Wochen später das erste Haus besetzt habe. | |
Wo war das? | |
Dieffenbachstraße, gegenüber vom Urbankrankenhaus. Das war damals die | |
Hochzeit der Besetzerszene. In der habe ich mich sehr intensiv und lange | |
bewegt. | |
Und weiter Drogen konsumiert? | |
Alkohol, Kiffen, Speed – das volle Programm. Und nebenbei noch Geld | |
verdienen auf der Intensivstation im Urban. Das war eine Zeit mit sehr | |
wenig Schlaf. Das war aber auch die Zeit, in der mir eine Freundin sagte, | |
dass sie mit mir nichts zu tun haben will, wenn ich weitersaufe. Für mich | |
war das ein tiefer Einschnitt. Ich glaube, 1987 habe ich dann das erste Mal | |
versucht aufzuhören. | |
Lassen Sie mich rechnen: Mit 29 Jahren und nach 16 Jahren Konsum haben Sie | |
die erste Therapie gemacht? | |
Nee, aufgehört habe ich erst mal ohne jede Therapie. Aber dann fingen die | |
Probleme erst an. Nach zwei Jahren ohne Drogen und mehreren | |
Selbsthilfegruppen habe ich gemerkt, dass es nicht reicht, einfach nur | |
nicht zu konsumieren. | |
Woran haben Sie das gemerkt? | |
Die Drogen hat mein Körper ohne jede Probleme mitgemacht. Aber mit der | |
Abstinenz kam mein mangelndes Selbstvertrauen zum Vorschein, die | |
Panikattacken kamen. Meine langjährige Männer-WG hatte mich | |
rausgeschmissen, weil ich mich nicht mehr am Gemeinschaftsleben beteiligt | |
habe. Also habe ich in einer winzigen Butze an der Oberbaumbrücke allein | |
vor mich hinvegetiert. Versifft und verwahrlost. Die Arbeit im Krankenhaus | |
war meine einzige Pause – da musste ich duschen, hatte meine | |
Arbeitskleidung. | |
Warum kam kein Rückfall in die Drogen? | |
Weil ich wusste, dass das mein Ende gewesen wäre. Es gibt den sogenannten | |
Rückfallschock. Das heißt, wenn einmal bewusst der Prozess der Abstinenz | |
begonnen wurde, dann wird ein Rückfall als etwas Lebensbedrohliches erlebt. | |
Wussten Sie das aus dem Medizinstudium? | |
Im Studium lernt man dazu gar nichts. Das war eine Mischung aus | |
Selbsterfahrung, den Erzählungen aus den Selbsthilfegruppen und einem | |
Gefühl. In meiner ersten Therapie habe ich gemerkt, dass ich keine normale | |
Kindheit hatte, sondern chronisches Gewaltopfer war. Da fing ich an, Dinge | |
zu tun, die bewusst meiner Selbstachtung dienen. | |
Zum Beispiel? | |
Zum Beispiel meinem Vater zu schreiben, dass ich ihm gern seine | |
Misshandlungen zurückgeben möchte, weil die mit mir nichts zu tun haben. | |
Drei Monate später habe ich 70 Seiten kopierte Aufzeichnungen von ihm | |
bekommen, wie viel Geld ich ihn gekostet habe. Das hat mir die endgültige | |
Trennung von ihm leicht gemacht. | |
Lebt Ihr Vater noch? | |
Ich bin seit vielen Jahren glückliche Vollwaise. | |
Wie ging es beruflich weiter? | |
Ich bin dann nach Hamburg und habe nach langer Suche schließlich als Leiter | |
einer Therapieeinrichtung für Spritzdrogenabhängige angefangen und da ganz | |
viel gelernt über medikamentenfreie Entzüge und Akupunktur bei | |
Suchtkranken. Dass ich damals in der Arbeit mit Süchtigen gelandet bin, war | |
vor allem Ausdruck eigener Stabilisierung. Ich war da selbst schon ein paar | |
Jahre clean und trocken und habe mir zugetraut, so eine Arbeit zu machen. | |
Und dabei blieb es auch? | |
Ja, bis heute. Das letzte Jahr in Hamburg hab ich in einer Einrichtung für | |
drogenabhängige Kinder und Jugendliche gearbeitet. Das war noch mal ein | |
totaler Augenöffner. Das war ich, nur 15 Jahre früher. Zurück nach Berlin | |
habe ich die ambulante Behandlung von Spritzdrogenabhängigen mit aufgebaut. | |
Spätestens 1991 war dann klar, dass es eine Gruppe von Schwerstabhängigen | |
gibt, die nicht in Allgemeinpraxen behandelt werden können. Die | |
Kassenärztliche Vereinigung hat das dann die „nicht wartezimmerfähigen | |
Patienten“ genannt. | |
Wer ist damit gemeint? | |
Diejenigen, die zu aggressiv für den normalen Praxisbetrieb sind, immer | |
wieder Beikonsum haben und Maßnahmen abbrechen. Eine Kollegin und ich | |
wurden damals jedenfalls ermächtigt, jeweils hundert Patienten in einer | |
speziellen Praxis zu substituieren. Angefangen haben wir in der Yorckstraße | |
in einer Minibutze. Später sind wir an der Möckernbrücke gelandet und dann | |
schließlich hier in Neukölln. | |
Wie offen sind Sie in der ganzen Zeit mit Ihrer eigenen Drogenvergangenheit | |
umgegangen? | |
Immer sehr offen. | |
Haben Sie das als Vorteil gesehen? | |
Ich habe in der Drogenhilfe die Erfahrung gemacht, dass das genauso ein | |
Vorteil wie ein Nachteil sein kann. Weil die Verlockung so groß ist, den | |
eigenen Weg als den einzig wahren den anderen überstülpen zu wollen. | |
Und wie ist das bei Ihnen? | |
Ich habe an mir selbst gelernt, dass Drogenkonsum nicht einfach ein | |
schlechtes Benehmen ist, das man einstellt. Sondern dass jeder Suchtkranke | |
einen sehr guten Grund hat, süchtig geworden zu sein. Und dass das Aufgeben | |
dieses Suchtverhaltens einen hohen Preis fordert. Das zeigen allein schon | |
die Selbstmordraten von Suchtkranken, die im ersten Jahr nach Abstinenz am | |
höchsten sind. | |
Warum hat mancher genug Überlebenswille, um das zu schaffen? | |
Das ist total schwer zu beantworten. Ich weiß nach 20 Jahren Erfahrung nur, | |
dass ich nie vorhersagen kann, wer es wie schafft. | |
Ist das spannend oder frustrierend? | |
Ich würde eher sagen, das verhindert, dass ich jemals denken werde, besser | |
als meine Patienten zu wissen, was gerade für sie angesagt ist. Wir sind | |
Begleiter, im besten Fall Orientierungshilfe. | |
Nun haben Sie sich aber in gewisser Weise für den schwersten Weg | |
entschieden und arbeiten ausgerechnet mit denen, die nicht unbedingt als | |
therapierbar gelten … | |
Am Anfang war das Trotz. Ich dachte mir, ihr mit euren | |
Psychiatrie-Diagnosen – psychotisch, schizophren, weiß der Henker. Am | |
meisten hasse ich „dissozial“. Diese Arbeit ist meine Art zu sagen: | |
Aufgeben akzeptiere ich nicht. Für mich selber nicht. Und erst recht nicht | |
dieser Gesellschaft gegenüber, wenn sie behauptet, manche Menschen sind | |
abzuschreiben, sind Abfall. Das finde ich eine unerträgliche Frechheit. | |
Und wie gut halten Sie es heute aus, dass Begleiten auch Begleiten beim | |
Scheitern bedeuten kann? | |
Mit meinen völlig veränderten Lebensbedingungen und der Tatsache, dass ich | |
seit 18 Jahren mit der gleichen Frau zusammenlebe und wir vier wundervolle | |
Kinder haben, hat sich ein nötiger Abstand entwickelt. Das ist die eine | |
Seite. Die andere ist, dass ich auch weiterhin keinen Abstand dazu haben | |
kann, was deutsche Mentalität, die Bedeutung von Funktionieren und | |
Scheitern, den Menschen so antut. | |
Was heißt das konkret für Ihre Arbeit? | |
Dass ich nicht darauf reinfalle, gesellschaftliches Funktionieren als | |
oberstes Ziel ärztlichen Handelns zu sehen. Ich bin der festen Überzeugung, | |
dass Glück auf jeder Ebene von gesellschaftlicher Existenz möglich ist. | |
Auch unsere Patienten verlieben sich, zeugen Kinder, sind aus ganz anderen | |
Gründen glücklich oder unglücklich. Produktivität im ökonomischen Sinne | |
spielt deshalb für mich hier keine Rolle. Ob einer eine Maßnahme beim | |
Jobcenter anfängt oder nicht, das kann für ihn selbst eine große Bedeutung | |
haben. Aber ich behandle meine Patienten nicht, damit sie dem Jobcenter | |
bessere Klienten sind. | |
Es gibt ja die Theorie, dass gerade Angebote wie Ihre systemstabilisierend | |
wirken und tiefgreifende Veränderungen blockieren. | |
Diese Studi-Argumentation kenne ich. Die finde ich so absurd, weil unsere | |
Patienten ja tatsächlich leiden. Es gibt ein konkretes Elend, mit dem nicht | |
nur Ärzte umgehen müssen, sondern auch die Gesellschaft. Nicht mal ein | |
Viertel der Kinder, die in diesem Land aufwachsen, wachsen gewaltfrei auf. | |
Was ist denn das für eine Gesellschaft, die Kinder so übersieht, der das so | |
scheißegal ist? | |
Sie sind also der Meinung, die Verbreitung von Drogen würde sich erst | |
eindämmen lassen, wenn Kindern mehr Aufmerksamkeit geschenkt würde? | |
Wenn es in dieser Gesellschaft mehr Herz für Kinder gäbe, dann würde auch | |
mehr gesehen und gehandelt, wenn etwas schief läuft und Kinder solche | |
schweren Misshandlungen erfahren, dass sie sich mit Drogen selbst | |
medikamentieren müssen. Das passiert aber nicht und deshalb mache ich mir | |
auch keine Sorgen um meinen Arbeitsplatz. | |
Klingt zynisch. | |
Ja, klar ist das zynisch. Ich bin da auch ratlos. Wenn ich König von Berlin | |
wäre, würde ich die Versorgung von Schulen nach dem Sozialindex der | |
umliegenden Bevölkerung richten und Kindergarten zur Pflicht machen und | |
entsprechend ausstatten. Aber da stoßen wir ja schon ans Ende unserer | |
Vorstellungskraft. | |
Deshalb bleiben Sie in Ihrer Praxis und behandeln die, die das System | |
ausspuckt. | |
Deshalb bleib ich in meiner Butze und richte aus, was ich ausrichten kann. | |
Würde es denn etwas bringen, Drogen zu legalisieren? Um die Debatte kommen | |
wir in Berlin ja gerade nicht herum. | |
Ich finde das lustig, dass die grünen Spießer aus Kreuzberg jetzt alle die | |
Legalisierung von Kiffen fordern, aber bis vor kurzem noch bereit waren, | |
gegen den Drogenkonsumraum in der Reichenberger Straße zu mobilisieren. Das | |
ist so bigott! Die ganze aktuelle Debatte um Legalisierung wird völlig | |
blind geführt. | |
Inwiefern? | |
Wenn wir die Frage der Legalisierung diskutieren, dann müssen wir von | |
bestimmten Grundvoraussetzungen ausgehen, und die sind ganz simpel: Wenn | |
Drogen erreichbar sind, dann werden sie konsumiert. Wenn Drogen billig | |
sind, dann werden sie erst recht konsumiert. Und am meisten werden die | |
konsumieren, die es am nötigsten haben. Das sind unwiderlegbare Fakten. | |
Wenn ich also dafür eintrete, Drogen zu legalisieren, dann muss mir völlig | |
klar sein, dass das in erster Linie die treffen wird, die sich am wenigsten | |
dagegen wehren können. Nur psychisch, ökonomisch und sozial gesunde | |
Menschen können ohne Probleme saufen, kiffen und Partydrogen nehmen. | |
Deshalb ist Legalisierung nichts, was man aus der Perspektive der | |
Freiheitsrechte oder Eigenverantwortung diskutieren kann. | |
Sprich: Sie sind gegen frei verkäufliche Drogen? | |
Auf jeden Fall. Eine Legalisierung von THC würde konkret bedeuten, dass | |
eine bestimmte Szene damit umgehen würde, wie sie es derzeit mit Alkohol | |
handhabt. Verbunden mit allen negativen Gesundheitsfolgen des Dauerkonsums. | |
Wir wissen ja, dass ein großer Teil der Berliner Schüler heutzutage | |
THC-erfahren ist. Nur ein ganz kleiner Teil von denen bekommt Probleme. | |
Aber bei denen, die sehr früh und sehr massiv konsumieren, gibt es keinen | |
Unterschied in der Schwere der Erkrankung zu denen, die beispielsweise auf | |
Heroin oder Alkohol abstürzen. | |
Aus Ihrer Sicht werden die sozialen Probleme, die Sucht zugrunde liegen, im | |
Moment ohnehin nicht gelöst. Das heißt auch, dass es Süchtigen nicht besser | |
geht, wenn Drogen kriminalisiert werden. | |
Das stimmt. Aber das ist kein Argument für eine Legalisierung. Das ist ein | |
Argument für eine Entkriminalisierung zum Beispiel durch Substitution oder | |
staatliche Heroinvergabe. | |
Nach den vielen Jahren der Normalisierung, so nennt man das ja – wo sind | |
Sie persönlich heute angekommen? | |
Normalisiert hat sich das tiefe Misstrauen gegenüber allem und jedem. Ich | |
bin immer noch der Mensch, als der ich geboren und aufgewachsen bin, aber | |
ich kann heute zufrieden sein. Ich hatte auch einfach tierisch Glück. Das | |
ist ja auch so ein Faktor: Ich glaube ernsthaft, dass es nur eine Frage von | |
Glück ist, ob man mit einer Lebensgeschichte wie meiner in der Junkieszene | |
oder im Irrenhaus landet. | |
Was waren Ihre Glücksfaktoren? | |
Ich hatte das Glück, Drogen zu entdecken, bevor ich mich umgebracht habe. | |
Ich hatte das Glück, dass ich auf Drogen niemals so viel Scheiß gebaut | |
habe, dass ich dafür zu Recht im Knast gelandet wäre. Und ich hatte das | |
Glück, Menschen zu treffen, die mir die Augen geöffnet haben. | |
Jetzt muss ich noch mal nachhaken: Sie sagen, die Drogen haben in einer | |
bestimmten Phase Ihr Leben gerettet – und Sie sind trotzdem gegen | |
Legalisierung? | |
Oh ja. Dafür killt Sucht zu viele Leute. Am Alkohol sterben heißt immer | |
noch, 20 Jahre seines Lebens zu verlieren. Drogen sind ein Mittel gegen | |
Verzweiflung, aber kein erstrebenswertes. | |
26 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
MANUELA HEIM | |
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