# taz.de -- Wackelnde Wände | |
> RADSPORT Bei der Weltmeisterschaft der Kunstradfahrer und Radballer | |
> trifft sich eine eingeschworene Gemeinde und feiert in der | |
> nichtolympischen Sportart deutsche Erfolge | |
AUS STUTTGART JÜRGEN LÖHLE | |
Da sitzt er nun mit dem Fotoapparat in der Hand auf der Tribüne, knipst ein | |
bisschen in der Halle herum, kaut lächelnd an einem Müsliriegel und | |
schreibt in aller Ruhe ein Autogramm – „für Maxi“. David Schnabl gibt si… | |
etwa so prätentiös wie sein Müsliriegel, dabei hätte er allen Grund, | |
wenigstens ein bisschen den Star herauszukehren. Der Bayer ist schließlich | |
Weltmeister, und das gleich vierfach. Schnabl (27) dominiert seit Jahren | |
die Szene der Kunstradfahrer, und wenn er nicht vom Rad purzelt, was er | |
ganz selten tut, wird er auch bei der WM in Stuttgart zumindest | |
Vizeweltmeister. Schlagen kann ihn, wenn überhaupt, nur sein | |
Nationalmannschaftskollege Florian Blab. Für alle anderen aus 20 Nationen | |
geht es in der Arena nur ums olympische Prinzip des Dabeiseins, obwohl | |
Hallenradsport gar nicht olympisch ist. Aber er ist fest in deutscher Hand | |
und in bestimmten Regionen ungeheuer populär. | |
Selbst Rolf Schneider von der WM-Organisation wundert sich, wie einfach es | |
war, die dreimal 6.000 Karten zu verkaufen. Das Geheimnis ist einfach: Der | |
Sport bringt seine Fans selbst mit – Schweizer, Österreicher, Italiener, | |
Japaner, Tschechen. Man trifft sich zur WM, manche schlafen im Wohnmobil | |
vor der Halle und alle bewundern, was die Germans so alles können auf dem | |
direkt übersetzten Kunstrad. Sechs Titel gibt es an den drei Tagen (fünfmal | |
Kunstrad und Radball), hart umkämpft ist allenfalls das Radball-Turnier, | |
aber da haben Uwe Berner und Matthias „Matze“ König Heimvorteil. Die beiden | |
sind vom RV Gärtringen, 20 Kilometer von Stuttgart entfernt. Das Dorf ist | |
schon seit Wochen im Aufruhr. Der Bürgermeister verteilte persönlich | |
WM-Flyer, die Fans rücken per S-Bahn und Sonderbus an. „Da stellt es dir | |
wirklich die Haare auf“, sagte König, nachdem er und sein Partner das | |
Auftaktmatch gegen Angstgegner Belgien 7:3 gewonnen hatten. „Ich dachte, | |
hier fliegt gleich das Dach weg.“ | |
Es ist eine WM der scharfen Kontraste. Beim Radball auf dem 14 mal 11 Meter | |
großen Parkett wackelt die Wand. Es gibt Kuhglocken schwingende Schweizer, | |
mit Holzpantoffeln trappelnde Holländer, trötende Deutsche. Beim Kunstrad | |
ist es dagegen mucksmäuschenstill, im Hintergrund läuft dezente Musik, die | |
leider manchmal an Richard Clayderman erinnert. Aber gut, damit lässt es | |
sich leben, zumal viele auch Hörbares im Programm haben. Die Hymne bei den | |
Siegerehrung ist dagegen immer die gleiche. | |
Das liegt daran, dass in Deutschland etwa 10.000 diesen Sport aktiv | |
betreiben und dass sich in Dörfern überwiegend in Süddeutschland Hochburgen | |
gebildet haben, in denen Amateure reinsten Wassers bis zu 20 Stunden in der | |
Woche schwerste Sprung- und Halteübungen auf dem Rad trainieren, die man | |
andernorts nur aus dem Lehrbuch kennt. Nach Bundestrainer Dieter Maute, | |
selbst zigfacher Weltmeister, ist ein Sprung vom Sattel mit beiden Beinen | |
auf den Lenker benannt, den außerhalb Deutschlands kaum einer versucht. | |
Vor der fünfminütigen Kür melden sich die Athleten mit den | |
Schwierigkeitspunkten ihrer Übung an. Wenn die Kür sitzt, gibt es die | |
Punkte und damit für deutsche Athleten auch den Titel. David Schnabl hat | |
mit 206,8 Punkten gemeldet, Florian Blab gab 205,2 an. Danach kommt lange | |
nichts, irgendwann Hang Cheong Wong aus Macao mit 173,8. | |
Geld gibt es für die erfolgreichen Radartisten kaum zu verdienen. 150 Euro | |
Sporthilfe im Monat, 1.000 Euro für den WM-Titel, das war’s. Für den Bund | |
Deutscher Radfahrer sind die Kunstradler ein Glücksfall. Sie holen Titel | |
wie andere Brötchen beim Bäcker und sind auch ein erfreulicher Teil der | |
Dopingstatistik, da sie nie auffallen und trotzdem in der Radfamilie | |
mitgerechnet werden. Was fehlt, ist die olympische Anerkennung. Man bemüht | |
sich jetzt bei den World Games der nichtolympischen Sportarten um Aufnahme, | |
die Chancen für 2013 stehen gut. Die WM in Stuttgart liefert weitere | |
Argumente. Kein VIP-Schnickschnack, nur Party, die abends in einem eigens | |
aufgebauten Bierzelt weitergeht. Keine Randale, aber jede Menge Bier. Die | |
Fans haben teilweise einen schweren Kopf, die Athleten schweben dagegen mit | |
verblüffender Leichtigkeit über das Parkett. | |
Kunstrad ist ein wenig wie Turnen auf dem Schwebebalken mit Rädern unten | |
dran. Sieht leicht aus, ist aber ungeheuer schwer. Und emanzipiert. Beim | |
Kunstrad-Zweier der Männer, auch offene Klasse genannt, kann auch eine Frau | |
neben dem Mann auf dem Rad sitzen. Das deutsche Paar Ann-Kathrin Eggert und | |
Stephan Rauch ist so eines. „Sieht doch auch besser aus“, sagt Rauch. Die | |
beiden wurden, wer hätte es gedacht, Weltmeister. Mit großem Vorsprung. | |
29 Nov 2010 | |
## AUTOREN | |
JÜRGEN LÖHLE | |
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