# taz.de -- Ein anderes Leben ist möglich | |
AUS VERDEN ULRIKE HERRMANN | |
Durchhalten. Weitermachen. Im Ökozentrum Verden glauben sie daran, dass | |
sich wieder eine große Chance bieten wird. So wie damals im Jahr 2000, als | |
die globalisierungskritische Bewegung Attac von Frankreich nach Deutschland | |
geschwappt ist. Irgendwann fiel auf, wie seltsam es ist, dass die deutsche | |
Zentrale ausgerechnet in Verden an der Aller saß. Die französischen | |
Globalisierungskritiker residierten in Paris und wurden vom Chic der | |
Intellektualität umstrahlt; das deutsche Attac war von Kuhweiden umgeben. | |
Das machte neugierig auf diese kleine Provinzstadt südlich von Bremen. In | |
Verden stießen die Medien auf einen romanischen Dom, niedliche Gassen und | |
erhielten die Auskunft, dass der Ort 27.000 Einwohner hat und sich als | |
„Zentrum der Tierzucht“ bezeichnet. | |
Dieser Titel hat immer wieder erheitert. Aber Verden ist eben | |
landwirtschaftlich geprägt, und rund um die Stadt gibt es diverse Biohöfe, | |
Ökobetriebe und Land-WGs, wo 80 bis 100 Menschen vorleben wollen, dass eine | |
andere Welt möglich ist. Etwa 30 von ihnen arbeiten im Ökozentrum, das sich | |
als linksalternative Denkzentrale versteht. Im Rückblick ist es dann doch | |
nicht so überraschend, dass man ausgerechnet hier früh erkannt hat, dass | |
die Attac-Massen gemanagt werden müssen. | |
Inzwischen haben sich diese Massen aber ein wenig verlaufen und in ihre | |
Alltagsnischen zurückgezogen. Welche Chancen hat eine „solidarische | |
Ökonomie“ also noch, wenn das Politische wieder privat wird? Das soll nun | |
ein Kongress klären, den das Ökozentrum organisiert und der ab heute an der | |
TU Berlin stattfindet (siehe Kasten). | |
Die Frage nach der Zukunft ist eher neu fürs Ökozentrum. Früher, zu | |
Attac-Hochzeiten, war schon die Gegenwart überwältigend. Da brach | |
tatsächlich eine andere Welt herein, es waren die Medien. Wie jede Bewegung | |
brauchte auch Attac ein Gesicht, und niemand eignete sich besser als Sven | |
Giegold. | |
„Smarter Querdenker“ nannte ihn die Frankfurter Rundschau, er trat bei | |
Sabine Christiansen auf, die Süddeutsche Zeitung führte ganzseitige | |
Interviews mit ihm. Es überraschte, dass er alle Argumente der Neoliberalen | |
zu parieren wusste, und es interessierte, dass er keinen Führerschein | |
hatte. | |
Aber der Rummel war zu anstrengend. „Wir waren komplett erschöpft“, | |
erinnert sich der heute 36-jährige Giegold. Die Mitgliederzahl schnellte | |
auf 11.000 hoch, die Finanzen waren ein Chaos, und schon beim WG-Frühstück | |
mussten die ersten Pressemitteilungen formuliert werden. Nach drei Jahren | |
konnten sie nicht mehr im Ökozentrum. Sie baten Attac darum, dass die | |
Zentrale nach Frankfurt zieht: Inzwischen haben dort Hauptamtliche das | |
Management übernommen. | |
Was aber ist das Ökozentrum ohne Attac? Insgeheim leiden die in Verden doch | |
unter ihrem Bedeutungsverlust, heißt es bei vielen in der alternativen | |
Szene. Es schien naheliegend, dass sich einige Mitglieder im Ökozentrum | |
nach neuen Herausforderungen umsehen würden. „Sven könnte doch auch als | |
Manager bei einem Großkonzern arbeiten“, meint etwa Uli Steinmeyer, der im | |
Ökozentrum einen biologischen Baustoffhandel betreibt. „Er ist der | |
analytische Kopf hier.“ Das ist eine sachliche Feststellung, Neid ist bei | |
dem 42-Jährigen nicht herauszuhören. Nur Erleichterung, dass Giegold bisher | |
nicht weggezogen ist. Steinmeyer will in Verden bleiben, aber ohne Giegold | |
würde er eben nur einen ganz normalen Ökobetrieb führen. So aber findet | |
sich der dreifache Vater in einem politischen Symbolprojekt wieder. Bis auf | |
weiteres. Dem blonden Niedersachsen ist anzumerken, dass er noch immer ein | |
wenig fürchtet, der Attac-Vordenker könnte irgendwann nach Berlin umziehen. | |
Doch Giegold hat sich für Verden entschieden, er will Arbeiten und Leben | |
kombinieren. Das sagt er wie immer ernst. Er lächelt selten und ist so | |
diszipliniert, dass er sogar dann konzentriert aussieht, wenn er sich | |
langweilt, weil er alle Fragen und Argumente schon kennt. In einer | |
Großstadt würde jede größere Gemeinschaft zerfallen, erklärt er. „Alle | |
würden versuchen, ständig ihre Sozialbeziehungen zu optimieren.“ Er klingt | |
wie der Volkswirt, der er ist. Wenn er es merkt, übersetzt er sich selbst: | |
„Jeder würde sich fragen, welche Gruppe noch cooler ist.“ „Cool“ ist k… | |
Begriff, den man mit Giegold assoziieren würde. Am liebsten trägt er | |
ausgebeulte Wollpullover und im Winter eine selbstgestrickte Mütze, die mit | |
ihren Ohrenklappen immerhin warm aussieht. | |
Aber wovon sollen sie in Verden leben? Das Projekt Ökozentrum ist in die | |
Jahre gekommen. Gegründet wurde es von Studenten, von denen die meisten | |
inzwischen über 30 sind, die Ersten haben schon Kinder. Die Lösung heißt | |
„Bewegungsunternehmer“. Sie schaffen sich ihre Arbeitsplätze selbst, indem | |
sie Protestdienstleistungen anbieten. Da ist die „Bewegungsakademie“, die | |
einen Seminarbetrieb mit 20 Betten unterhält und Globalisierungskritiker | |
„ökonomisch alphabetisiert“. Da gibt es die „Bewegungsstiftung“, die G… | |
bei reichen Erben einsammelt, um Projekte wie LobbyControl zu finanzieren. | |
Da ist „Campact“, das über Internet-Mailinglisten politischen Widerstand | |
organisiert – etwa gegen die unklaren Nebeneinkünfte der Politiker. | |
Giegold selbst ist „Bewegungsarbeiter“: Für sein politisches Engagement im | |
Attac-Koordinierungskreis erhält er 1.000 Euro monatlich, die diverse Paten | |
aufbringen. Zu ihnen gehört auch seine ehemalige Biologielehrerin in | |
Hannover, der er das politische Schlüsselerlebnis verdankt. 8. Klasse, | |
Projektwoche im Harz: Da verstand er, was das Wort „Waldsterben“ bedeutet. | |
Die Initiativenvielfalt hat den gewollten Nebeneffekt, dass lästige | |
Machtkonflikte gar nicht erst entstehen. Jeder Häuptling hat jetzt seinen | |
eigenen kleinen Verein. Das Attac-Konsensprinzip haben sie in unguter | |
Erinnerung, weil es allen die gleichen Rechte einräumt, auch wenn nicht | |
alle gleich fähig sind. „Bei den Linken stört sich keiner daran, dass es | |
gute und schlechte Musiker gibt“, wundert sich Felix Kolb von der | |
Bewegungsstiftung. „Aber es darf nicht darüber gesprochen werden, dass sich | |
nicht jeder als Pressesprecher eignet.“ Der 32-Jährige war | |
Attac-Pressesprecher, als die Zentrale noch in Verden saß. Man ahnt, wie | |
bitter dieser Job damals sein konnte, weil jeder es besser wusste. | |
Doch trotz der vielen neuen Projekte ist Verden weitgehend aus den Medien | |
verschwunden. Das liegt nicht an den Ideen, die oft aus den USA importiert | |
und dort sehr erfolgreich sind. Deutschland hat sich verändert. Es gibt | |
jetzt die Linkspartei, die den Protest ins Parlament trägt; Lafontaine und | |
Gysi sitzen in den Talkshows, nur noch selten Giegold. | |
In Verden bleibt man zunehmend unter sich. Früher waren die WGs überfüllt | |
mit Praktikanten, aber nun ziehen kaum noch Studenten an die Aller, um den | |
Sinn des Lebens zu suchen. Bei den Partys kennt jeder jeden, und es fällt | |
angenehm auf, wenn auswärtige Gäste erscheinen. „Viele fahren nach Bremen, | |
um mal was anderes zu erleben“, berichtet Dagmar Embshoff, die bei der | |
Bewegungsakademie arbeitet. Die blonde 31-Jährige strahlt Effizienz aus und | |
ist eine der wenigen Frauen, die im Ökozentrum Einfluss haben. | |
Es fällt auf, dass die Männer dominieren. Sie repräsentieren nach außen, | |
sie leiten die meisten Projekte, und im „offenen Wohnzimmer“, den | |
gelegentlichen Diskussionsrunden, melden vor allem sie sich zu Wort. „Wir | |
haben die gleichen sexistischen Grundstrukturen wie der Rest der | |
Gesellschaft“, gibt Giegold offen zu. Daran haben auch die | |
FORT-Therapiegruppen nichts ändern können. Die Abkürzung steht für „Frauen | |
organisieren radikale Therapie“. Wie auf der FORT-Homepage nachzulesen ist, | |
arbeiten Frauengruppen dabei „gemeinsam an ihrer Lebensfreude“, indem sie | |
sich etwa in „Gespensterrunden“ darüber austauschen, wie sie die anderen | |
Gruppenmitglieder wahrnehmen. Auch die Verdener Männer reflektierten sich | |
selbst. Jetzt wohnt Giegold in einer 3-Männer-WG, seine Freundin, eine | |
angehende Ärztin, ist nebenan in die Frauen-WG gezogen. | |
Es ist beschaulich geworden im Ökozentrum; die Zeit reicht aus, dass | |
auffallen kann, dass eine Palme fürs Büro hübsch wäre. Aber es scheint die | |
Verdener nicht besonders zu stören, dass sie in der deutschen | |
Aufmerksamkeitsökonomie nach unten gerutscht sind. Wer immer nur der | |
Mehrheitsmeinung folgt, kann nichts Eigenes denken. Sie sind daran gewöhnt, | |
Außenseiter zu sein. Und es hilft, dass sie miteinander befreundet sind. | |
Der Kern der Männergruppe um Sven Giegold lernte sich in den frühen 90ern | |
in der Umweltbewegung kennen. Damals redeten alle über die | |
Wiedervereinigung – sie boykottierten Einwegverpackungen an ihren Schulen | |
oder pflegten Streuobstwiesen. Sie definierten sich über dieses Anderssein; | |
es gehörte zu ihrer politischen Rebellion. „Ich war ziemlich uncool“, | |
erinnert sich etwa Felix Kolb. „Polohemd und langweilige Klamotten.“ | |
So könnte man sein Aussehen auch heute noch beschreiben. Kolb will Distanz, | |
sogar zu sich selbst. Er hat Angst, dass er so sehr in seinen Projekten | |
aufgeht, dass es seiner Professionalität mehr schadet als nützt. „Nur wenn | |
man loslassen kann, findet man Leute, die mitmachen.“ Um Abstand zu sich | |
selbst zu schaffen, betrachtet er sein Wirken von außen: Seine Doktorarbeit | |
will die Erfolgsbedingungen von politischen Bewegungen ergründen. | |
Letztlich, so sein Fazit, muss man „wegkommen vom kurzlebigen Aktionismus“. | |
In Verden sind sie überzeugt, dass Bürgerprotest irgendwann wieder wichtig | |
wird. „Man muss aushalten“, sagt Giegold, „die sozialen Probleme bleiben | |
ja.“ | |
24 Nov 2006 | |
## AUTOREN | |
ULRIKE HERRMANN | |
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