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# taz.de -- Großdenker und andere schwere Geister
> RETROSPEKTIVE Die Akademie der Künste zeigt mit 280 Aufnahmen Einblicke
> in das Werk von Gisèle Freund
VON RALF HANSELLE
Die schönsten Selfies entstehen im Mittelformat. 1950 etwa in Mexiko-Stadt.
Damals fotografierte sich Gisèle Freund mit einer Rolleiflex-Kamera vor dem
Spiegel ihrer eigenen Wohnung. 42 Jahre alt war die Porträt- und
Reportagefotografin zu diesem Zeitpunkt; sie arbeitete als assoziiertes
Mitglied für Magnum Photos und war gern gesehener Gast bei Frida Kahlo und
Diego Rivera. Das Selbstporträt aus Mexiko zeigt eine selbstbewusste Frau
mit kürzeren Haaren; gerade Haltung, strenge Miene. Während sie den
Auslöser drückt, scheint sie genau zu wissen, wie man aus einem
erdgebundenen und freundlichen Wesen einen strengen Intellektuellentyp
macht.
Vermutlich ist es das berühmteste Bild, das die im Jahr 2000 verstorbene
Fotografin der Nachwelt von sich selbst hinterlassen hat. Dabei ist es
etwas ungewöhnlich für ein klassisches Freund-Bild: schwarz-weiß,
Mittelformat, ohne bildungsbürgerliches Dekor. Dennoch steht dieses strenge
Selbstporträt gleich zu Beginn einer umfangreichen Freund-Ausstellung, die
jetzt in der Berliner Akademie der Künste zu sehen ist. Unter dem Titel
„Fotografische Szenen und Porträts“ haben die Kuratoren Janos Frecot und
Gabriele Kostas gut 280 Bilder der deutschfranzösischen Porträtistin
zusammengetragen; dazu unzählige Kontaktbögen, Vintage Prints und
Originaldokumente. Viele dieser Bilder – darunter vor allem die berühmten
Schriftstellerporträts aus den 30er und 40er Jahren – wurden für diese
Schau neu gescannt und digital bearbeitet. Anmutung und Farbigkeit, so die
Kuratoren, kämen auf diese Weise den Originalen am nächsten.
Und Farbigkeit ist es, für die Gisèle Freund noch heute berühmt ist. Als
sie 1908 in eine jüdisch-bürgerliche Familie in Berlin hineingeboren wurde,
da ging für die Geschichte der Fotografie ein innovatives Jahr zu Ende.
Irgendwo in derselben Stadt nämlich war die erste Farbaufnahme von Kaiser
Wilhelm II. entstanden. Noch war das Ergebnis unausgegoren; und vorbehalten
waren Farbaufnahmen den mächtigen Männern. Doch als dreißig Jahre später
der erste farbige Kleinbildfilm auf den Markt kam, sollte Freund eine der
ersten Fotografinnen werden, die die Farbe konsequent nutzten. Ihre
Aufnahmen von James Joyce, Frida Kahlo oder Walter Benjamin mögen aus
heutiger Sicht vielleicht etwas knallig und quietschig erscheinen, doch
zweifelsohne haben sie Geschichte geschrieben. Sartre, Neruda, Breton oder
Nabokov – wir hätten die Intellektuellen der Vor- und Nachkriegsära anders
in Erinnerung ohne die Fehlfarben der Gisèle Freund.
Doch vor der Entdeckung einer eigenen Handschrift stand eine radikale
Entwurzelung. 1933, Freund schrieb gerade an einer Dissertation über
Fotografie und Gesellschaft, floh die politisch links stehende Doktorandin
ins Exil nach Paris. Ihren Lebensunterhalt bestritt sie fortan mit Fotos;
sie arbeitete für Weekly Illustrated und später für Life. Die Berliner
Ausstellung zeigt Gehversuche: eine frühe Reportage über den Ersten
Internationalen Schriftstellerkongress; eine lange Bildstrecke über den
Alltag in der Bibliothèque Nationale. Hier, zwischen den endlosen
Bücherwänden, lernte sie auch Walter Benjamin kennen, einen Mann, dem sie
fortan freundschaftlich verbunden blieb. Während Benjamin an seinem
„Passagen-Werk“ schrieb, forschte Freund weiter für ihre Dissertation. Doch
dazwischen gab es Lesepausen; Fotoshootings mit Großdenker: Benjamin vor
Zettelkästen, Benjamin zwischen Bücherregalen, Benjamin, gebeugt über Buch
und Papier. Manche dieser Bilder mögen etwas unscharf erscheinen. Doch das
Verschwinden des Denkers im Fotokorn wirkt aus heutiger Sicht wie ein
Vorzeichen all des Unheils, das kommen sollte.
Der Typ „Homme de Lettres“ zog Freund auch weiterhin an. Surrealisten,
Dadaisten, die Klassiker der Pariser Moderne. Anfangs verbarrikadierte sich
deren Geist noch hinter schwerem Mobiliar. James Joyce etwa, aufgenommen
1938, erscheint vor gewichtigen Bücherregalen in rot bezogenem Ledersessel.
Doch mit dem Ende des Krieges wurde der Intellekt auf den Bildern von
Gisèle Freund zunehmend luftdurchlässig und weniger staubig. Vielleicht war
es das Schwinden der Sorge um das eigene Leben, vielleicht auch die
Erkenntnis, dass die Welt durch Verstand nicht zu retten wäre. Auf ihren
Porträts aus den Nachkriegsjahren jedenfalls erscheinen viele
Schriftsteller leichtgewichtig; verschwinden Denkerstirn, Pose und
Sorgenfalte. Ihre berühmte Serie über Jean-Paul Sartre und Simone de
Beauvoir etwa ist durchzogen von Zeitungsstapeln, Chaos und einem Hauch von
echtem Leben.
Wie sehr sich die Welt mit dem Krieg verändert hatte, das zeigt auch eine
Reportage aus den späten 50er und frühen 60er Jahren. Aufgenommen hat
Gisèle Freund sie in Berlin. Junge Leute, neue Straßen. Diese Dokumente aus
den Beständen des Berliner Stadtmuseums bilden den Abschluss einer
Ausstellung, in der man vermutlich nie lernen wird, was denken heißt, dafür
aber, wie man als Denker sich denkend darstellt.
■ Bis 10. August, Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, Di.–So. 11–19 Uhr
5 Jun 2014
## AUTOREN
RALF HANSELLE
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