# taz.de -- Völlig losgelöst auf der Erde | |
> UNENDLICHE WEITEN Zurück im Selbstverwirklichungsraum Manhattan: Jonathan | |
> Lethem macht Spaß und kommt doch zu spät – „Chronic City“ | |
VON DORIS AKRAP | |
Manhattan, der Weltraum, das Internet – alles Orte, an denen man Dinge | |
erlebt, die nirgendwo anders auf so engem Raum möglich wären. Doch auch | |
noch auf eine andere Weise gilt für New York dasselbe wie fürs Internet | |
oder das Weltall: Für die einen ist es Verheißung von Freiheit und Glück, | |
für die anderen ist es Fluch und Bedrohung. | |
Verbirgt sich hinter den glitzernden Fassaden Manhattans in Wahrheit nur | |
eine riesige Abfallgrube, in die Drogenbestecke, alte Kühlschränke, | |
Selbstmörder mit Aktenkoffern und tausend Seiten dicke, unlesbare Romane | |
geschmissen werden? Und sind das Weltall und das Internet wirklich gute | |
Alternativen, um Geliebte loszuwerden oder der gelangweilten Upperclass | |
Manhattans und ihren Cocktailpartys mit David Bowie und Lou Reed zu | |
entfliehen? Die Begrenztheit der unendlichen Weiten des Weltraums und der | |
unbegrenzten Möglichkeiten Manhattans und des Internets sind die Themen in | |
Jonathan Lethems Roman „Chronic City“. | |
Es gibt darin einen Ich-Erzähler namens Chase Insteadman, er berichtet von | |
seiner kurzen, aber nachhaltig wirkenden Freundschaft mit Perkus Tooth in | |
Downtown heute. Tooth ist ein arbeitsloser Popkritiker, der sich – halb | |
wahnsinnig, halb genialisch – in seiner kleinen, ehemals besetzten Wohnung | |
eine Parallelwelt aufgebaut hat aus Verschwörungstheorien, | |
Zeitungsschnipseln, Cheeseburgern und jeder Menge Plexiglasdöschen mit | |
verschiedenen Haschischsorten. Schließlich landet er aber als Obdachloser | |
in einer Hundepension, wo er sich mit einem dreibeinigen Pitbull namens Ava | |
ein Zimmer teilt und zu „Shattered“ von den Rolling Stones tanzt. | |
Von diesem Perkus Tooth ist Chase Insteadman fasziniert. Denn sein eigenes | |
Leben ist farblos. Chase Insteadman ist ein arbeitsloser Schauspieler. Er | |
wird auf alle wichtigen Partys der High Society eingeladen und lebt von den | |
Tantiemen einer Sitcom, in der er als Kind eine Hauptrolle spielte. Doch | |
auf den Dinnerpartys immer wieder auf seine Kinderrolle angesprochen zu | |
werden nervt ihn allmählich – und der Umstand, immer wieder an seine | |
Geliebte Janice Trumbull erinnert zu werden, nervt ihn auch. Die nämlich | |
ist Astronautin an Bord eines Raumschiffs, das aufgrund eines technischen | |
Defekts von der Bodenstation nicht mehr zurückgeholt werden kann. Janice | |
schreibt Chase herzerweichende Liebesbriefe; die gehen allerdings direkt an | |
die New York Times, wo Chase die Mitteilungen seiner nur noch virtuellen | |
Geliebten lesen muss. | |
Chase flüchtet aus der Inszenierung der Welt der Reichen, Korrupten und | |
Gelangweilten in der Upper East Side. Und er landet mit Perkus Tooth im | |
Drogenrausch und in den virtuellen Welten der Verschwörungstheorien und des | |
Internets. Doch je tiefer er in eBay-Versteigerungen und in Projekte wie | |
Second Life eindringt, umso mehr wird klar: Hier herrschen dieselben | |
Spielregeln wie draußen. Die gleichen Leute, die draußen den | |
Selbstverwirklichungsraum Manhattan zerstören, um teure Tonwhouses zu | |
errichten, besitzen im Internet die Macht, uns von ihnen abhängig zu | |
machen. | |
Jonathan Lethem legt mit „Chronic City“ seinen achten Roman vor. Der 1964 | |
in New York geborene Schriftsteller kehrt damit zurück in seine | |
Geburtsstadt. Vorübergehend hatte er die Handlung seiner Bücher an die | |
Westküste verlegt, obwohl er gerade mit seinen New-York-Romanen „Die | |
Festung der Einsamkeit“ und „Motherless Brooklyn“ weltweite Erfolge | |
feierte. Auch „Chronic City“ zu lesen macht großen Spaß. Brillant | |
geschrieben, unterhaltsam, spannend, voll popkultureller Links aus dem New | |
York der Beatniks und des Punkrock. | |
Trotzdem, na ja, man bleibt unbefriedigt. Denn das, was Lethem beschreibt, | |
ist ein Diskurs, der einen schon im ausgehenden 20. Jahrhundert irgendwann | |
genervt hat. Das Verhältnis von Virtualität und Realität, von Medien, | |
Manipulation und Eskapismus angesichts der digitalen Revolution – mit | |
Filmen wie „Matrix“ oder der „Truman Show“ wurde es bereits ausgiebig | |
verhandelt. Inzwischen ist es durchbuchstabiert. „Chronic City“ wirkt daher | |
wie ein zwar hervorragend erzählter, aber leider zu spät kommender | |
Nachzügler. | |
Kürzlich wurde Lethem als Professor für Creative Writing ans Pomona College | |
berufen; er wird dort die Nachfolge von David Foster Wallace antreten. Man | |
brauchte diese Bestätigung gar nicht, um festzustellen: Jonathan Lethem ist | |
ein großer Schriftsteller. Man kann aber zugleich für seine nächsten Bücher | |
auch nur darauf hoffen, dass sein Raumschiff wieder Kontakt zur | |
Bodenstation kriegt. | |
■ Jonathan Lethem: „Chronic City“. Aus dem Amerikanischen von Johann | |
Christoph Maass und Michael Zöllner. Tropen Verlag bei Klett-Cotta, | |
Stuttgart 2011, 492 Seiten, 24,95 Euro | |
26 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
DORIS AKRAP | |
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