# taz.de -- Zwischen den Rillen: Antiödipale Vaterfigur | |
> ■ Zwei „Diskurs-Techno“-Platten widmen sich Gilles Deleuze | |
Langsam füllen sich die Archive mit den Geräuschen für die Neunziger. Was | |
zu Beginn des Jahrzehnts begann und seit zwei Jahren als Tendenz sichtbar | |
und medial begleitet worden ist, beginnt sich nun zu konturieren. | |
Die Rede ist von einem musikalischen Bereich, der sich an den Grenzen von | |
Rock, Techno und Neuer Musik gebildet hat. Ich möchte für dieses Genre den | |
Namen Diskurs-Techno vorschlagen. Techno, weil die wichtigsten kreativen | |
Impulse derzeit noch von Technoproduzenten kommen, die sich nicht länger | |
nur (aber weiterhin auch) auf das Bedienen von Tanzflächenbedürfnissen | |
konzentrieren; und weil Musiker, die zuvor mit herkömmlichen Instrumenten | |
gearbeitet haben, sich immer mehr interessieren für die technologischen | |
Möglichkeiten. Und Diskurs, weil hier zum einen verschiedene historische | |
Musikkulturen (Avantgarde, Rock, Rave) miteinander in Beziehung gesetzt | |
werden; zum anderen, weil die Form der Produktion in den Vordergrund | |
gerückt wird: Musik ist ein technisches, kein psychisches Produkt. Deswegen | |
spiegeln sich in ihr mehr gesellschaftliche Verhältnisse als individuelle | |
Befindlichkeiten. | |
Deshalb ist es kein Zufall, daß gerade zwei Diskurs-Techno-Compilations | |
veröffentlicht wurden, die dem Andenken an Gilles Deleuze gewidmet sind, | |
den französischen Philosophen, der im November letzten Jahres Selbstmord | |
beging. Insbesondere in seinen zusammen mit dem 1992 verstorbenen | |
Psychoanalytiker Félix Guattari verfaßten Büchern „Anti-Ödipus“ (1972) … | |
„Tausend Plateaus“ (1982) hat er sich bemüht, die Entwicklung des | |
menschlichen Subjekts aus dem Bann von „Mama und Papa“ zu befreien und als | |
Ergebnis gesellschaftlicher Produktion darzustellen: „Kapitalismus und | |
Schizophrenie“ lautet der Untertitel der erwähnten Bücher. | |
Dieser politische Impetus wurde dargereicht in einer Schreibweise, die sich | |
nicht an akademischen Gepflogenheiten orientierte, und mit einer | |
Begrifflichkeit, aus der man sich mit Strömen, Rhizonen, Nomadologien und | |
Deterritorialisierungen reichlich versorgen konnte. | |
So ist es nicht verwunderlich, daß einige der auf der Doppel-CD des | |
Frankfurter Labels Mille Plateaux vertretenen Musiker Stücktitel kreierten, | |
die sich direkt auf Deleuze beziehen. Mille Plateaux muß sich nicht | |
vorwerfen lassen, daß es hier nur einer gerade hippen Mode folgen würde. | |
Schon in den Linernotes und Pressemitteilungen des Mutterlabels Force Inc. | |
hat insbesondere Labelchef Achim Szepanski versucht, die Vorgehensweise der | |
Musiker und der Firma auf eine von Deleuze/Guattari und Foucault | |
inspirierte Basis zu stellen. | |
Daß dieser Versuch bei der Gelegenheit, eine posthume Hommage an Deleuze zu | |
produzieren, teilweise über das Ziel hinausschießt, spricht nicht gegen das | |
Bestreben, das eigene Tun auf theoretisch eventuell relevante Implikationen | |
abzuklopfen. | |
Allerdings bekommt man ein leicht mulmiges Gefühl bei einigen begrifflichen | |
Gespreiztheiten im 36seitigen Booklet oder bei Stücktiteln, die ein | |
Ursache- Wirkungs-Prinzip zwischen Theorie und Praxis suggerieren: „Happy | |
Deterritorializations“, „Gigantic Tautological Machinery“, | |
„Wunschmaschinenpark“. | |
Dennoch kann sich das Label mit dieser Compilation die Auszeichnung ans | |
Revers heften, Diskurs-Techno erstmals umfassend und facettenreich | |
präsentiert zu haben. Von der Akustikcollage der Frankfurter | |
Konzeptkünstler Wehowsky/ Wollscheid und des Avantgardemusikers John | |
O'Rourke über die Beiträge der Technoproduzenten Alec Empire, Cristian | |
Vogel, Ian Pooley und die Digitalexperimente von Oval bis zum Stück des von | |
John McEntire (Tortoise, Gastr Del Sol) produzierten Trios Trans Am aus | |
Washington, D. C., bekommt man zweieinhalb Stunden den Stand der Dinge: | |
keine Anfänge, keine Kohärenz, keine Enden. Einzig das Auftauchen von | |
Zoviet France und von Chris & Cosey aus den dunklen Achtzigern befremdet | |
etwas. | |
Die CD des Brüsseler Labels Sub Rosa kommt schon bescheidener daher. Bis | |
auf die britische Formation Main sind alle auf ihr vertretenen Projekte | |
auch auf „In Memoriam ...“ (natürlich mit anderen Stücken) präsent. In d… | |
Linernotes wird Deleuze direkt angesprochen. Auch Szepanski erwähnt in | |
seinem Text einen Brief, in dem sich der Philosoph positiv zum Programm des | |
Labels geäußert habe. | |
Zu diesen Offenlegungen persönlicher Kontakte paßt, daß Deleuze auf beiden | |
CDs zu hören ist. Als solle er aus dem Jenseits bei jedem Abspielen der | |
Musik deren Bedeutsamkeit immer wieder beglaubigen. Auch wer den | |
„Anti-Ödipus“ intus hat, kommt ohne Vaterfigur nicht aus. Dazu sei noch | |
erwähnt, daß auf den dreieinviertel Stunden dieser Platten (außer Cosey) | |
keine Produzentin erscheint. Rock hat vierzig Jahre gebraucht, bis dieses | |
Thema auf das Tapet kam. So lange sollte man es nicht noch einmal gut sein | |
lassen. Martin Pesch | |
Diverse: „In Memoriam Gilles Deleuze“ (Mille Plateux/Efa) | |
Diverse: „Folds And Rhizomes For Gilles Deleuze“ (Sub Rosa/ Semaphore) | |
15 Mar 1996 | |
## AUTOREN | |
Martin Pesch | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |