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# taz.de -- Textfragmente zu Ostseewellen
> LINIENGESPINST In der DDR galt er als Geheimtipp, in den neunziger Jahren
> wuchs seine Anerkennung: Carlfriedrich Claus. Jetzt ehrt ihn die Akademie
> der Künste mit der Ausstellung „Geschrieben in Nachtmeer“
VON BRIGITTE WERNEBURG
Er hat nicht die Welt, aber immerhin das Meer auf den Kopf gestellt. 1954
oder 1955, in kleinen, 6 x 9 cm großen Schwarzweißfotografien, die nun, in
der Ausstellung „Carlfriedrich Claus – Geschrieben in Nachtmeer“, zum
ersten Mal öffentlich präsentiert werden. Die Akademie der Künste am
Pariser Platz widmet dem Künstler, der bis fünf Jahre vor seinem Tod 1998
abgeschieden in Annaberg im Erzgebirge lebte und arbeitete, eine große
Retrospektive. Seine Sprachblätter, Radierungen und Fotografien sind zu
sehen und Lautprozesse zu hören.
Sein grafisches Werk ist hermetisch, das Dickicht der aus winziger Schrift
gebildeten Linien seiner „Sprachblätter“ hat auf den ersten Blick manische
Züge, wobei schon auf den zweiten Blick Textfragmente sichtbar werden,
sprachliche Informationen, die keinesfalls Zwang, sondern poetischem
(Über-)Mut entsprungen sind. Wie für Claus Sprache erst jenseits von ihrem
alltäglichen Gebrauch zum Material wurde, mit dem ästhetisch wie semantisch
zu argumentieren ihn interessierte, so gewann auch das fotografische Bild
für ihn erst dort Autonomie, wo es sich aus dem Erinnerungszusammenhang
löst und einfache Musterwahrnehmung fixiert. Dafür muss dann auch mal das
Meer auf den Kopf gestellt und die Ostseewellen müssen zu einem
widersinnigen, deshalb aber endlos faszinierenden Formenwirbel werden.
„Ich nehme eben gerade nicht das „Heimatlich“, „Traute“ in Haus, Stra…
Wald wahr, sondern viel mehr das Unheimliche, Unerlöste, das Ächzen im
Gebälk“, notiert er 1963 in sein Tagebuch. Das stimmt für seine frühe
Fotografie, die in seinem Werk eine Episode bleibt. Und das stimmt für sein
akustisches Werk, das am Pariser Platz nun in der Rekonstruktion des
„Lautprozess-Raums“ zugänglich wird. Im gleißend hellen Saal werden sieben
Abspielgeräte und 14 Lautsprecher über Bewegungsmelder gesteuert und damit
wird unter anderem bedrohliches, heftiges Schnaufen oder das gemeine
Knarren von Türen aktiviert. Die interaktive Installation war erstmals
1995, anlässlich seines 65. Geburtstags, in den Kunstsammlungen Chemnitz
realisiert worden.
Carlfriedrich Claus war seit den 50er Jahren mit den französischen
Künstlerpaaren Ilse und Pierre Garnier, Nela und Alain Arias-Misson und dem
Frankfurter Künstler konkreter Poesie, Franz Mon, befreundet. In der DDR
unterstützten ihn Künstler, Kunsthistoriker und Literaten wie Werner
Schmidt, Christa und Gerhard Wolf oder Klaus Werner, aber erst nach der
Wende erfuhr er öffentliche Resonanz und Anerkennung, etwa 1998 mit dem
Auftrag, die Wandelhalle im deutschen Bundestag auszugestalten.
## Als Einzelgänger isoliert
Zu Zeiten der DDR war der bekennende Kommunist, der sich zunächst mit der
Kabbala und Rudolf Steiner, später mit Paracelsus und Ernst Bloch
beschäftigt hatte, der Partei und ihren Funktionären suspekt. Er war der
Einzelgänger und Außenseiter, den man gerne losgeworden wäre, weshalb ihm
mehrmals die Ausreise angedient wurde.
Die Besonderheit der Akademie-Ausstellung liegt nun in der Präsentation des
„Geschichtsphilosophischen Kombinats“, einem zeichnerischen Hauptwerk mit
21 Sprachblättern, von denen Claus 19 Blätter auf teilweise mehreren Lagen
Transparentpapier realisierte, wobei er die Vorder- wie die Rückseiten
beschrieb. Diese Papiere sind nun, in Plexiglas eingefasst, so in den
Ausstellungsraum gestellt, dass ihre Transparenz unmittelbar erfahren
werden kann. Die beiden Blattseiten gehen eine Synthese ein, wie Brigitta
Milde, Leiterin des Carlfriedrich-Claus-Archivs der Kunstsammlungen
Chemnitz, schreibt, „in der Schrift und Spiegelschrift, brillante Schärfe
und mattes Verschwimmen, Vordergrund und Hintergrund dialektisch aufgehoben
sind“. Claus verstand diese Anlage als Experiment, seine Lektüre etwa von
Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ oder sprachwissenschaftliche und
gesellschaftspolitische Themen rein schreibgestisch zu vermitteln.
## Erwachen aus dem Augenblick
Auch damit, könnte man sagen, stellt er die Welt, das Meer, oder hier
unsere Art und Weise zu lesen, radikal auf den Kopf. In einem Interview,
das der Kunsthistoriker, Galerist, Museumsgründer und Rektor der
Kunsthochschule Leipzig, Klaus Werner, mit ihm führte, ist ein Hinweis auf
die Beweggründe dieser Bewegung zu finden. Nimmt man auf der Bank links am
Eingang der Ausstellung Platz und setzt die Kopfhörer auf, berichtet Claus,
dass er sich als Kind mit Karate beschäftigt habe, um sich auf dem Schulhof
wehren zu können. Karate aber heiße „Erwachen aus dem Augenblick“. Das ha…
er in seinem Werk visualisieren wollen. Es erstaunt also nicht, dass er
fotografierte, bevor er zeichnete. Denn ist nicht Fotografie per
definitionem dieses Karate?
■ Bis 5. Juni, Akademie der Künste, Pariser Platz 4, Di.–So., 11–20 Uhr
13 Apr 2011
## AUTOREN
BRIGITTE WERNEBURG
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