| # taz.de -- Erinnern beim Gewächshaus | |
| > Einst Israelitische Gartenbauschule, später Gestapo-Gefängnis: Gleich | |
| > neben den Feldern der Landwirtschaftskammer liegt die | |
| > Holocaust-Gedenkstätte Hannover-Ahlem. Sie zählt zu den wenigen | |
| > Erinnerungsorten, deren Geschichte nicht mit Zerstörung endet – und ist | |
| > heute kaum bekannt | |
| VON PETRA SCHELLEN | |
| Es wird eine Gedenkveranstaltung der eigenen Art sein, heute Abend im | |
| hannoverschen Stadtteil Ahlem, und das an einem besonderen Tag: Heute vor | |
| 62 Jahren endete der Todesmarsch von 800 Häftlingen des | |
| „Arbeitserziehungslagers“ Lahde zur Deportations-Sammelstelle Ahlem. In | |
| drei Gruppen hatten die Nazis die Gefangenen auf die 60 Kilometer lange | |
| Strecke geschickt. Zehn Menschen starben unterwegs, weitere 100 wurden nach | |
| der Ankunft in Hannover erschossen. Die übrigen wurden von Ahlem aus | |
| deportiert, unter anderem ins KZ Hamburg-Neuengamme. | |
| Heute gegen 17 Uhr werden elf Schüler der Bückeburger Herder-Realschule in | |
| Ahlem ankommen. Sie werden auf den Spuren der damaligen Häftlinge durch die | |
| Dörfer gewandert sein, mit Passanten diskutiert und Informationsmaterial | |
| verteilt haben. Es ist nicht ihre erste Begegnung mit dem Thema: Seit | |
| Jahren schon recherchiert die vom Lehrer Klaus Maiwald initiierte | |
| Geschichts-AG zum Holocaust in der Region. Ein Engagement, das gewürdigt | |
| wird: Für ihre Dokumentation „Wegweiser auf den Spuren von Zwangsarbeit in | |
| Schaumburg und Petershagen/Lahde“ hat die AG zum Beispiel den | |
| niedersächsischen Schülerfriedenspreis 2005 bekommen. | |
| Aus diesem Projekt habe sich auch die Idee des Marschs entwickelt, sagt | |
| Maiwald, der stolz ist, dass sogar seine Schuldirektorin ein Stück | |
| mitgegangen ist und dass ein Ex-Schüler T-Shirts mit der Aufschrift | |
| „Gedenkmarsch in Erinnerung an den Todesmarsch von 1945“ entworfen hat. | |
| Diese „Erinnerungsarbeit“ nennt der Lehrer für Geschichte und Englisch | |
| „elementar“: nicht nur aus Pietät, sondern auch deshalb, weil vieles | |
| schlicht nicht bekannt ist. | |
| Die Gedenkstätte Ahlem etwa kennen selbst in Hannover nur wenige. Dabei hat | |
| sie eine sehr spezielle Geschichte – eine, die nicht mit Zerstörung endet. | |
| Denn auf den Feldern, die zur 1893 gegründeten „Israelitischen | |
| Gartenbauschule“ gehörten, blüht heute wieder der Raps; die Gewächshäuser | |
| werden stetig genutzt. Eine eigenartige Mischung aus Gedenkstätte und | |
| Landwirtschaftsbetrieb ist so entstanden. Ein Ort, der unaufdringlich | |
| Vergangenheit und Gegenwart verbindet: Die 1893 vom jüdischen Bankier | |
| Alexander Moritz Simon angekauften 18 Hektar Land mit vier erhaltenen | |
| Backsteingebäuden teilen sich heute die Gedenkstätte, die | |
| Landwirtschaftskammer und ein Resozialisierungsprojekt. | |
| Die Gedenkstätte selbst beansprucht nur einen kleinen Teil des Areals. Sie | |
| residiert im ehemaligen Direktorenhaus der Gartenbauschule, die aus einem | |
| ungewöhnlichen Motiv heraus entstand: Simon wollte die einseitige | |
| Berufswahl jüdischer Jugendlicher beeinflussen, die in Jahrhunderten | |
| einengender Gesetzgebung begründet war. Er wollte ihnen ermöglichen, ihren | |
| Lebensunterhalt nicht nur als Händler zu verdienen, sondern auch als | |
| Handwerker – zumal das 1812 erlassene preußische Emanzipationsgesetz, das | |
| Juden Gewerbefreiheit zusicherte, 1842 auch im Landkreis Hannover umgesetzt | |
| wurde. Zielgruppe der Israelitischen Gartenbauschule waren vor allem | |
| osteuropäische Juden, die sich bis dato als verarmte Kleinhändler | |
| durchgeschlagen hatten und daher in den Gesellschaften des Westens kaum | |
| Integrationschancen hatten. | |
| Ihnen wollte Alexander Moritz Simon neue Perspektiven öffnen – und es | |
| gelang: 2.000 Jugendliche ließen sich zwischen 1893 und 1942 in Ahlem zum | |
| Gartenbauer, Tischler oder Schuster ausbilden. Ab 1900 gab es hier auch | |
| eine Hauswirtschafts-Ausbildung für Mädchen. | |
| Bewohner des streng rituell geführten Berufsschul-Internats waren – neben | |
| Juden aus Deutschland – vor allem Jugendliche, die vor den russischen | |
| Pogromen der Jahrhundertwende geflohen waren. So war das Ziel der Schule | |
| zunächst auch nicht, Juden auf die Auswanderung aus Deutschland | |
| vorzubereiten, sondern sie vielmehr in Deutschland zu integrieren. Denn | |
| „die Günderväter der Schule verstanden sich als kaisertreue Deutsche“, sa… | |
| Rainer Vasel, der Leiter der Gedenkstätte. | |
| Und Simons Idee funktionierte: Die Qualität der Ausbildung sprach sich | |
| schnell herum, Mitglieder jüdischer Logen saßen im Kuratorium und leisteten | |
| regelmäßig Geldspenden. Nach kurzer Zeit wurde die Schule von der | |
| Hannoverschen Landwirtschaftskammer anerkannt, die auch die Prüfungen | |
| abnahm. „Da die Absolventen vielfältig einsetzbar waren, fanden sie meist | |
| schnell Arbeit“, erzählt Vasel. „Oft hier in der Region.“ Denn auf dem | |
| Lehrplan stand in Ahlem vor allem deutsche Vegetation. | |
| Erst ab 1933 wurden, mit Blick auf eine eventuelle Auswanderung der | |
| Schüler, auch Englisch und der Umgang mit tropischen Pflanzen unterrichtet. | |
| Tatsächlich wanderten etliche Absolventen zwischen 1935 und 1939 aus – vor | |
| allem nach Palästina, aber auch in die USA, nach Lateinamerika, Afrika und | |
| Australien. | |
| 1942 endeten Unterricht und freiwilliger Exodus abrupt: Wie alle jüdischen | |
| Schulen im Deutschen Reich musste auch die Israelitische Gartenbauschule | |
| den Unterricht einstellen. Deportations-Sammelstelle war sie bereits seit | |
| dem Jahr 1941. Ab 1943 wurde sie außerdem Gestapo-Gefängnis für bis zu | |
| 1.200 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene – wiederum vor allem aus | |
| Osteuropa. Sie lebten im Kohlenkeller des ehemaligen Direktorenhauses. | |
| Tagsüber arbeiteten die meisten von ihnen in den unterirdischen | |
| Asphaltstollen des KZ Ahlem, einer Nebenstelle des KZ Neuengamme. | |
| Fotos und Schriftstücke im Keller des früheren Direktorenhauses zeugen von | |
| der Geschichte des Ortes. Viele Dokumente blättern schon von den feuchten | |
| Wänden. Was kaum überrascht, denn renoviert wurde die 1987 von der Stadt | |
| Hannover eingerichtete Gedenkstätte seither nicht mehr. Das soll jetzt | |
| anders werden. „Wir wollen Ahlem in den nächsten Jahren zu einer vor allem | |
| für Schüler benutzbaren Gedenkstätte machen“, sagt Vasel. „Hauptauftrag … | |
| Politik ist, die Projektarbeit mit Schülern zu intensivieren.“ Zunächst | |
| will er deshalb Computer-Arbeitsplätze einrichten. Später soll auch die | |
| Ausstellung neu gestaltet werden. | |
| Wenig renovierungsbedürftig wirkt indes der schlichte, als schwarzer Kubus | |
| gestaltete Gedenkraum: 4.000 Namen derer, die in acht Deportationszügen | |
| unter anderem in die KZ Riga und Auschwitz deportiert wurden, sind hier an | |
| den Wänden aufgelistet. „Dies ist vor allem deshalb wichtig, weil sich die | |
| Spur etlicher Menschen später verliert. Für die Angehörigen ist dies also | |
| der letzte Ort, an dem sie mit Sicherheit präsent waren“, sagt | |
| Gedenkstättenmitarbeiterin Mußmann. | |
| Der Vater von Ruth Kleeberg ist einer von ihnen. 1943, nachdem ihre Wohnung | |
| abgebrannt war, war sie mit ihrer Familie in eins der „Judenhäuser“ auf dem | |
| Ahlemer Gelände gezogen. Später wurde der Vater wegen einer Lappalie | |
| verhaftet. Anfang 1945 beobachtete die Elfjährige, wie er auf einem LKW | |
| weggebracht wurde. Kurz darauf starb er im Auffanglager Sandbostel bei | |
| Bremervörde an Typhus. | |
| Aber das erfuhr die Tochter erst nach dem Krieg. Zuletzt gesehen hat sie | |
| den Vater bei der ehemaligen Laubhütte in Ahlem: ein Quadrat in der Wiede, | |
| erkennbar nur noch an den vielsprachigen Gedenksteinen, das die Nazis im | |
| April 1945 zusammen mit belastenden Dokumenten verbrannten. | |
| Von der Laubhütte, ursprünglich Ort religiöser Feste der Israelitischen | |
| Gartenbauschule, blieb kein Stein. Nur eine Brandwunde in der Rinde des | |
| knorrigen Baums daneben. Seinen gespaltenen Stamm halten Stahlverstrebungen | |
| zusammen, Pragmatiker hätten ihn wohl längst gefällt. Gedenkstättenleiter | |
| Rainer Vasel nicht. Er will ihn behalten. So lange der Baum steht, lebt ein | |
| Zeuge. | |
| 27 Apr 2007 | |
| ## AUTOREN | |
| PETRA SCHELLEN | |
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