# taz.de -- Stil und Modernität – Coco Chanel | |
> BIOGRAFIE Die Journalistin Justine Picardie möchte die Mythen um Coco | |
> Chanel zur Seite räumen und ihre wahre Geschichte erzählen | |
VON BRIGITTE WERNEBURG | |
Keine ihrer großen Romanzen, nicht Boy Capel, der Großfürst Dimitri oder | |
der Herzog von Westminster, sondern Pierre Wertheimer war der Mann ihres | |
Lebens. Das ist das denkwürdige Resümee von Coco Chanels Geschichte, vor | |
allem, wenn man bedenkt, dass ihr keine Aktion infam genug war, bot sie nur | |
die Chance, Wertheimer aus ihrem Leben zu verbannen. | |
Seitdem sie 1924 für ihr erstes Parfum, Chanel No. 5, eine Partnerschaft | |
mit ihm und seinem Bruder Paul eingegangen war, fühlte sie sich von ihm, | |
aufgrund ihres nur 10-prozentigen Geschäftsanteils an Les Parfums Chanel, | |
finanziell hintergangen. Also zögerte sie während des Zweiten Weltkriegs | |
nicht, die Rassegesetze der deutschen Besatzer als Chance zu ergreifen, | |
ihren jüdischen Geschäftspartner loszuwerden. Dabei sorgte er für | |
verlässlichen Profit und „schenkte [damit] Coco Chanel die Freiheit und | |
Unabhängigkeit, ihr Leben zu führen, ohne auf einen Ehemann angewiesen zu | |
sein“, wie Justine Picardie in ihrer aktuell veröffentlichten | |
Chanel-Biografie schreibt. | |
Das ist ein merkwürdiger Satz. Zwar war Pierre Wertheimer maßgeblich für | |
den internationalen Siegeszug von Chanel No. 5, dem erfolgreichsten Parfum | |
aller Zeiten, verantwortlich, denn nur Dank seines Kapitals, seiner | |
weitreichenden Handelsverbindungen, vor allem in die USA, und seiner | |
enormen Geschäftserfahrung konnte Coco Chanel ihre Parfum- und | |
Kosmetikprodukte optimal entwickeln und vermarkten. Aber er hat ihr nichts | |
geschenkt, schon gar nicht die Freiheit, ohne Ehemann zu leben. Umgekehrt | |
schenkte auch sie ihm nichts. | |
1946 startete sie erneut einen Versuch mit Hilfe des Schöpfers von Chanel | |
No. 5, dem russischstämmigen Parfumeur Ernest Beaux, ihr ganz eigenes | |
Parfum Mademoiselle Chanel No. 1 gegen Wertheimer ins Rennen zu schicken. | |
Sie war sich ihres Beitrags an der nicht ohne Grund Les Parfums Chanel | |
genannten Erfolgsgeschichte sehr wohl bewusst. Und so sah sich Pierre | |
Wertheimer doch noch gezwungen, die Verträge zu ihren Gunsten zu ändern, | |
womit er letztlich ihr Comeback 1954 mitfinanzierte. Allerdings tat er noch | |
mehr; er trug die Kosten ihrer ersten Nachkriegskollektion und er hielt zu | |
ihr, als sie sich zunächst als ein Fiasko erwies. Die Bestellungen aus den | |
Vereinigten Staaten, die schließlich nur so hereinströmten, retteten sie. | |
Am Ende des gleichen Jahres übereignete Coco Chanel Pierre Wertheimer ihr | |
Modehaus und sämtliche Rechte an ihrem Namen. Bis heute ist Chanel im | |
Besitz der Familie Wertheimer. | |
Vielleicht ist das der Grund, warum Justine Picardie auf der einen Seite | |
die Intrige Chanels gegen Wertheimer nicht wirklich ausleuchtet und auf der | |
anderen Wertheimer immer wieder geradezu ein Mäzenatentum gegenüber Chanel | |
andichtet. Als erste Autorin überhaupt erhielt sie unbegrenzten Zugang zum | |
Chanel-Archiv. Das ermöglichte ihr natürlich zahlreiche neue Einblicke, die | |
sie allerdings, wie es ihre oft schwer nachvollziehbare Gewichtung der | |
Fakten und Umstände zeigt, nicht recht nutzte. Um bei der No. 5 zu bleiben: | |
Wen interessiert die Behauptung von Misia Sert, ihre Freundin Coco Chanel | |
verdanke ihr das Parfum No. 5? Vor allem, da Picardie die Geschichte, die, | |
um unterhaltsam zu sein, viel zu kompliziert ist, zu Recht in einem fort | |
anzweifelt? Spannender wäre es doch, mehr über Ernest Beaux und seine | |
Bemühungen um die Quintessenz des modernen Dufts zu erfahren. | |
Als interessanter, letztlich aber gescheiterter Versuch sind auch Picardies | |
Bemühungen anzusehen, Chanels Stil und besonders den Ursprung ihres | |
Formenrepertoires an Coco Chanels, von ihr ebenso verleugneten wie | |
märchenhaft verwandelten, Kindheitsorten wiederzufinden. Denn ungewollt | |
denunziert sie damit Chanels Ideen- und Erfindungsreichtum als pure | |
Verdrängungsleistung. Solche Ausrutscher betrüben, weil Picardie ansonsten | |
Coco Chanels Aufstieg vor dem Zweiten Weltkrieg, ihren Fall während der | |
deutschen Besatzung und ihr Comeback in den von Dior und Balenciaga | |
beherrschten 50er Jahren angenehm sachlich erzählt. Und sie betrüben auch | |
deshalb, weil zuletzt in zwei Filmen („Coco avant Chanel“ und „Coco Chanel | |
& Igor Strawinsky“, beide 2009) am Mythos Chanels gestrickt wurde und es | |
höchste Zeit erscheint für eine solide Biografie, die Edmonde Charles-Roux’ | |
Version von 1974 ergänzt und korrigiert. | |
■Justine Picardie: „Chanel. Legende und Leben“. Zeichnungen Karl Lagerfel… | |
Steidl Verlag, Göttingen 2011, 428 Seiten, 38 Euro | |
28 May 2011 | |
## AUTOREN | |
BRIGITTE WERNEBURG | |
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