# taz.de -- Unser Mann aus den Tropen | |
> KÜNSTLERKARRIERE Selten hat die Popwelt einen ähnlich spektakulären | |
> Sänger erlebt – und selten so wenig mit ihm anzufangen gewusst: Die | |
> Geschichte des Musikers Harry Nilsson erzählt viel über das Business. Am | |
> 15. Juni würde er seinen 70. Geburtstag feiern | |
VON DETLEF DIEDERICHSEN | |
Man könnte es als Gottesbeweis werten, dass die Welt sich dieses großen | |
Gotteslästerers, der eines seiner Alben „God’s Greatest Hits“ nannte und | |
ein Lied über eine Weltuntergangsfantasie „Good For God“, nicht etwa wegen | |
seines einzigartig grotesken Songwerks erinnert, sondern wegen zweier | |
Coverversionen. | |
Fred Neils Aussteigerhymne „Everybody’s Talkin’ “ verpasste Harry Nilss… | |
1968 das Easy-Listening-Arrangement, nach dem sie von Anfang an geschrien | |
hatte. Ein Jahr später, an prominenter Stelle in John Schlesingers | |
Erfolgsfilm „Midnight Cowboy“ platziert, wurde daraus ein Grammy-prämierter | |
Welthit. So weit, so okay; heutzutage ist die Aufnahme ein sicherer Treffer | |
bei Oldie-Gourmets. | |
Die größte Reichweite erzielte Harry Nilsson jedoch mit der Schmonzette | |
„Without You“ aus der Feder von Peter Ham und Tom Evans von der trotz | |
Protektion durch Paul McCartney etwas unglückseligen Soft-Pop-Band | |
Badfinger. Diese ebenfalls mit einem Grammy ausgezeichnete Aufnahme darf | |
man als Mutter des Kuschelrockgenres einstufen und als Tiefpunkt seiner | |
künstlerisch fragwürdigen, kommerziell jedoch erfolgreichsten Mittelphase. | |
Immerhin gaben diese Erfolge seinem Selbstbewusstsein den nötigen Anstoß. | |
Von nun scherte er sich überhaupt nicht mehr um Anschluss an den | |
Mainstream, Radiotauglichkeit und die Vorstellungen seiner Plattenfirma, | |
sondern ließ einfach alles raus, was ihm in den Sinn kam. Das entsprach | |
durchaus seinem Talent, und die nun folgenden Werke kennzeichneten eine | |
späte Blütephase. | |
Er genoss das Promileben im Hollywood der Siebziger Jahre in vollen Zügen, | |
zog mit Partytieren wie Alice Cooper, Ringo Starr und Keith Moon nächtelang | |
um die Häuser und ruinierte sich mit Koks und Schnaps nachhaltig die | |
Gesundheit. Für all das zahlte er bitter ab Anfang der Achtziger als | |
kränkelnder Künstler, der nirgendwo mehr unterkommen konnte. Als er im | |
Januar 1994 52-jährig starb, hatte Harry Nilsson schon 14 Jahre lang kein | |
Album mehr veröffentlicht. Bei seiner Beerdigung in Los Angeles bebte die | |
Erde. Wer war’s? | |
Entgegen hartnäckiger Gerüchte, die ihm eine irische Abstammung und den | |
Geburtsnamen Nelson andichten wollen, hieß Harry Nilsson tatsächlich Harry | |
Nilsson. Genau wie sein Vater, der die Mutter und den Knaben verließ, als | |
der gerade mal drei Jahre alt war. „In 1941 a happy father had a son / and | |
in 1944 the father walked right out the door“, hieß es in dem Song „1941“ | |
von seinem ersten Album „Pandemonium Shadow Show“. | |
Die Großeltern waren noch in Schweden als Zirkusartisten aufgetreten, ihre | |
Paradenummer war ein „Luftballett“ – „Aerial Ballet“ hieß Nilssons z… | |
Album. Als ich ihn 1980 interviewen durfte, erzählte er glückselig, wie er | |
das Telefonbuch Stockholms durchgeblättert hatte und darin 27 Seiten mit | |
Nilssons und 31 Harry Nilssons gefunden hatte. Ein Onkel entdeckte und | |
förderte seine Musikalität und sein Gesangstalent, und tatsächlich hat die | |
Popwelt selten einen ähnlich spektakulären Sänger erlebt – und selten so | |
wenig mit ihm anzufangen gewusst. Es war vielleicht einfach zu viel für den | |
State of Pop Ende der Sechziger Jahre: Hier kam dieses spektakuläre | |
Multitalent und scherte sich kein bisschen um Acid Rock und | |
Gitarrengegniedel, lange Haare und psychedelische Outfits, sondern trug | |
adrette Pullover, einen halblangen Fassonschnitt und sang zu delikaten | |
Orchesterarrangements übers Altwerden und die Einsamkeit. | |
## Dann klingelte das Telefon. John Lennon war dran | |
Seine Begabung als Texter hatte er auch bei den Musikstunden des Onkels | |
schärfen können: Als der ihm immer wieder neue Lieder beibringen wollte, | |
deren Worte sich der kleine Harry unmöglich merken konnte, behalf er sich, | |
indem er spontan eigene Zeilen dichtete. Diesen Stream of consciousness | |
konnte er später auch noch zu finstersten Partyzeiten offen halten. Doch | |
die so und anders entstandenen Texte berührten oft unangenehme Themen, | |
enthielten Four-letter-words und waren nicht selten von einem bizarren, | |
fast surrealistisch anmutenden Humor durchzogen, der sowohl | |
Mainstream-Konsumenten wie Hippies verstörte. | |
Mit seinen ersten Alben hatte er es sich so denkbar unbequem gemacht, im | |
sich zu jener Zeit zunehmend verhärtenden Zweifrontensystem in der | |
amerikanischen Popwelt, zwischen affirmativem Pop und bilderstürmerischem | |
Acid Rock. Doch dann klingelte eines Morgens um sieben Uhr Nilssons | |
Telefon: „Is this Harry? This is John.“ – „John who?“ – „John Len… | |
„Huh?“ – „This record is fuckin’ fantastic, man. I just wanted to say | |
you’re great.“ | |
Die Beatles äußerten in den letzten Jahren ihrer Existenz bei fast jeder | |
Gelegenheit ihre Verehrung für Nilsson. Damit war weitere Promotion | |
überflüssig. Es war dann auch noch Beatles-Publizist Derek Taylor, der | |
Regisseur John Schlesinger Nilssons Version von „Everybody’s Talkin‘ “ | |
vorspielte. Und die Gruppe Badfinger war eine Entdeckung Paul McCartneys | |
gewesen und veröffentlichte auf dem Beatles-eigenen Apple-Label. | |
Nach drei Alben mit Gourmet-Songwriting, einem Piano-plus-Stimme-Album mit | |
Randy-Newman-Songs und einem Kinder-Musical begann Nilsson im Sommer 1971 | |
in London das Album „Nilsson Schmilsson“ aufzunehmen, das „Without You“ | |
enthielt, über ein Jahr in den US-Charts blieb und ihn zum Star machen | |
sollte. Dem vergleichsweise schlichten Songmaterial verpasste Produzent | |
Richard Perry ein zeitgemäßes Soft-Glam-Rock-Gewand. | |
So hätte er weitermachen können, tat es aber nicht. Der Weg zu seiner | |
zweiten Blütephase in den Mittsiebzigern verlief jedoch keineswegs | |
gradlinig. Dazwischen lagen Soundtracks, ein Album mit Standards, ein etwas | |
zwiespältiges Party-Duett-Album mit John Lennon („Pussycats“) und ein | |
zeitweiliger Verlust seiner Stimme. | |
Sich dann in fröhlicher Runde mit einigen Best Buddys wie Van Dyke Parks, | |
Jim Keltner, Klaus Voormann und Dr. John in Los Angeles zu versammeln, um – | |
sicherlich befeuert durch handelsübliche Genussgifte – ein lockeres | |
Jam-Album zu machen, klingt nach einer Idee, die bei jedem anderen Künstler | |
wohl zu einem kaum erträglichen Ergebnis geführt hätte. Bei ihm kam es | |
anders. Nilssons mal manische, mal dunkelschwarze Texte, seine fröhlichen | |
Gotteslästereien („Jesus Christ he’s tall / I hope someday he’ll find a | |
basketball“) und dann doch die exquisiten musikalischen Beiträge der oben | |
genannten Herrschaften, die bei Nilsson an keine Mainstream-Vorgaben | |
gebunden waren und so einen leicht angeheiterten sophisticated Tropensound | |
zwischen Trinidad, Kuba, Jamaika und Louisiana kreieren durften, machten | |
das von der Plattenfirma in „Duit On Mon Dei“ umbenannte „God’s Greatest | |
Hits“ zu einem einzigartigen Werk. | |
Der Nachfolger „Sandman“ war fast ebenbürtig, dabei musikalisch noch | |
diverser, textlich noch bizarrer. Das dritte Album aus der Reihe, „That’s | |
The Way It Is“, fiel dagegen deutlich ab. Einen hatte er jedoch noch: 1977 | |
realisierte er ein fast entgegengesetztes Konzept und gab seine Stimme und | |
zehn neue Songs in die Hände des Arrangeurs Mike McNaught, der beides in | |
samtweich-flauschige Streicherkissen bettete. Titel des Albums: | |
„Knnillssonn“. | |
Mit solchen beknackten Titeln, überhaupt seinen humoristisch-surrealen | |
Ausfällen sowie seiner vollständigen Ignoranz von allem, was Rock, Rock ’n�… | |
Roll und Roggenroll ausmacht, war Nilsson natürlich vor allem hierzulande | |
komplett unvermittelbar. Daran konnte auch John Lennon nichts ändern. | |
Vielleicht war „Without You“ auch einfach fluchbelastet. | |
## Ab den Achtzigern ging so gut wie alles schief | |
Zwar verübte Nilsson keinen Selbstmord wie makabrerweise die beiden Autoren | |
des Songs, dessen Refrain lautete. „I can’t live / if living is without | |
you“. Aber ab den Achtziger Jahren ging ihm so gut wie alles schief. Sein | |
letztes Album „Flash Harry“ erschien nur noch in Europa, danach gab es | |
höchstens vereinzelte Samplerbeiträge. Seine Filmproduktionsfirma ging | |
pleite. Seine Finanzberaterin brachte sein Vermögen durch. Sein Engagement | |
nach John Lennons Tod für die „Coalition to Stop Gun Violence“, für die er | |
sogar auf Beatles-Fantreffen alte Hits zum Besten gab, war in den | |
Waffen-verliebten USA von vornherein zur Wirkungslosigkeit verdammt. Einen | |
letzten Auftritt hatte er im September 1992 als Gast von Ringo Starrs All | |
Star Band in Las Vegas. 1994 starb er an Herzversagen. | |
Schaut man sich nun mit Abstand dieses höchst heterogene Gesamtwerk an, | |
kann man eines feststellen: Hier hat sich einer was getraut. Das geht | |
natürlich nicht immer gut. Aber ein halbes Dutzend herausragender Alben zu | |
hinterlassen, die auch lange nach ihrem Entstehen noch einzigartige | |
Statements sind, ist keine kleine Leistung. | |
11 Jun 2011 | |
## AUTOREN | |
DETLEF DIEDERICHSEN | |
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