| # taz.de -- Berlin wird Müllerland | |
| > REGIERENDER Ein ewiger Kronprinz wird König. Wer ist der Mann mit dem | |
| > häufigsten Nachnamen der Republik? | |
| AUS BERLIN UWE RADA UND BERT SCHULZ | |
| So sieht ein Machtwechsel in Zeiten von Twitter aus: Die Nachricht vom | |
| überraschend klaren Sieg Michael Müllers beim SPD-Mitgliedervotum macht | |
| schon 30 Minuten lange über die sozialen Netzwerke die Runde, da erst | |
| treten die drei Kandidaten in der Berliner Parteizentrale im Stadtteil | |
| Wedding vor die Presse. | |
| Ist sich der Senator für Stadtentwicklung bewusst, welch grandiosen Sieg er | |
| an diesem Samstagmittag eingefahren hat? „Ich freue mich wahnsinnig“, sagt | |
| der 49-Jährige. „Aber ich muss auch sagen: Ich bin ganz platt.“ Neben | |
| Müller stehen seine beiden bisherigen innerparteilichen Konkurrenten um die | |
| Nachfolge Klaus Wowereits als Regierender Bürgermeister, lächeln etwas | |
| mühsam, gratulieren pflichtbewusst. | |
| Kaum jemand hatte mit diesem Ergebnis gerechnet. Müllers politische | |
| Umgebung hatte auf „40 plus“ spekuliert. Schon auf einen Sieg also – aber | |
| nicht auf so einen: 59,1 Prozent der Berliner Genossinnen und Genossen | |
| wollen den Stadtentwicklungssenator ins Rote Rathaus befördern. Knapp zwei | |
| Drittel der rund 17.200 SPD-Mitglieder hatten sich beteiligt. Stöß und | |
| Saleh landeten mit 20,8 und 18,6 Prozent abgeschlagen auf den Plätzen zwei | |
| und drei. Am 11. Dezember soll das Abgeordnetenhaus Müller zu Landesvater | |
| wählen. | |
| Der ewige Kronprinz hat es geschafft – obwohl ihn die meisten in seiner | |
| Partei schon abgeschrieben hatten. 2012 war der gelernte Drucker, der seit | |
| 2001 als Fraktionsvorsitzender und seit 2004 als Landeschef Wowereit den | |
| Rücken freigehalten hatte, von den SPD-Funktionären aus letzterer Position | |
| gedrängt worden. Er kommuniziere zu wenig, bespreche wichtige Dinge lieber | |
| im kleinen Kreis, als die Partei einzubinden, hieß es. SPD-Chef wurde jener | |
| Jan Stöß, der nun von der Parteibasis die Retourkutsche bekommen hat. | |
| Zehn Tage vor der Auszählung waren die drei Kandidaten noch einmal im | |
| Kreiskulturhaus von Berlin-Karlshorst zusammengekommen. Tiefer bürgerlicher | |
| Osten. Müller trug einen schwarzen Anzug, hellblaues Hemd, keine Krawatte. | |
| Die randlose Brille haben ihm seine Berater vor ein paar Jahren verpasst, | |
| er solle etwas dynamischer wirken, ohne dabei irgendwie nerdig auszusehen. | |
| „Viele sagen, ich gucke immer so ernst“, scherzte der Kandidat und trieb | |
| die Selbstironie noch ein wenig weiter. „Das wird auch nicht besser, aber | |
| darum geht es auch nicht.“ | |
| ## Es geht um die Wahl 2016 | |
| Was ansteht, formulierte Müller so: „Es geht bei uns dreien nicht um den | |
| nächsten Karriereschritt, sondern um die spannende Frage, wie wir die | |
| Abgeordnetenhauswahl 2016 bestehen.“ Offenbar waren sich die SPD-Mitglieder | |
| einig, dass der rhetorisch versierte, erfahrene und verlässliche Müller bei | |
| den Wählerinnen und Wählern besser ankommt als der etwas hölzern wirkende | |
| Stöß und der zu Anbiederung neigende Saleh. | |
| Auf Wowereit mit seinem Glamourfaktor folgt einer, der sich selbst mal als | |
| „ehrliche Haut“ bezeichnet hat. Aber es ist ein anderer Müller als der, der | |
| bereits vor seiner Entmachtung 2012 als Nachfolger gehandelt worden war. | |
| Als es 2009 schon einmal um den Posten ging – damals wurde über einen | |
| Wechsel Wowereits ins Bundeskabinett spekuliert –, kannten nur 9 Prozent | |
| der Berliner den geborenen Tempelhofer, der kein Abitur hat und sich peu à | |
| peu nach oben gearbeitet hat. Blass sei er, hieß es schon damals – und die | |
| Genossen atmeten auf, als feststand, dass ihr „Wowi“ doch im Roten Rathaus | |
| bleiben würde. | |
| Doch den Müller, der nach Wowereits Rücktrittsankündigung im Sommer seinen | |
| Hut als letzter der drei Kontrahenten in den Ring geworden hatte, erkannten | |
| viele nicht wieder. Drei Jahre als Senator haben ihn verändert. Er hat das | |
| von der SPD lange vernachlässigte Feld Mietenpolitik beackert, den | |
| Wohnungsbau vorangetrieben, ist aus dem Schatten des ewigen Kronprinzen | |
| herausgetreten. Er wirkt selbstsicher, zeigt Humor. Müller wird nicht mehr | |
| an anderen gemessen. Vielmehr mussten sich seine beiden Mitbewerber an ihm | |
| messen. | |
| Dabei hatte es trotz Favoritenrolle lange nicht so ausgesehen, als würde | |
| Müller es im ersten Wahlgang schaffen. Zwei Tage nach dem Mitgliederforum | |
| in Karlshorst musste die SPD eingestehen, dass die Beteiligung doch nicht | |
| so hoch war, wie zuvor stolz verkündet. Die Post hatte sich verzählt: Statt | |
| 10.000 hatten nur ca. 7.000 Sozialdemokraten ihre Stimme abgegeben. Dabei | |
| galt: Je höher die Wahlbeteiligung, desto besser die Chancen für Müller. | |
| Blieben die Funktionäre bei der Abstimmung dagegen weitgehend unter sich, | |
| stiegen die Chancen von Stöß. Umso überraschender war das Ergebnis. Im | |
| Grunde hatten sich bereits alle drei Kandidaten auf einen zweiten Wahlgang | |
| eingerichtet. | |
| Nun aber wird Berlin Müllerland. Viel Zeit, den Erfolg zu genießen, hat der | |
| Sieger nicht. Wenn er am 11. Dezember mit den Stimmen der CDU zum | |
| „Regierenden“ gewählt wird, warten bereits die ersten dicken Bretter. Die | |
| Neuverhandlung des Länderfinanzausgleichs steht an, die nächste Sitzung des | |
| Aufsichtsrats des Pleitenflughafens BER. Müller hat darüber hinaus | |
| angekündigt, die Ansiedlung von Wirtschaftsunternehmen voranzutreiben. | |
| „Berlin hat viele freie Flächen, das unterscheidet uns von anderen | |
| Metropolen.“ | |
| Und Müller hat es mit einer gegenüber der SPD zunehmend skeptischen | |
| Bevölkerung zu tun. Schon im Wahlkampf 2011 waren Mietsteigerung und die | |
| drohende Verdrängung ärmerer Schichten an den Stadtrand ein großes Thema. | |
| Im Verlauf des Mitgliederentscheids hat sich gezeigt, wie alle drei | |
| Kandidaten zu Abschluss des Wahlkampfs bilanzierten, dass es das mit | |
| Abstand wichtigste Anliegen der SPD-Basis ist. Müller ist, als langjähriger | |
| Landes- und Fraktionschef, nicht unschuldig daran, dass die Partei dieses | |
| Thema viel zu lange ignoriert hat. Darf man ausgerechnet ihm zutrauen, so | |
| fragen sich viele Berliner, es tatsächlich anzugehen? | |
| Immerhin: Die CDU, die seit den Wahlen 2011 als Juniorpartner mit der SPD | |
| regiert, hält zu Müller. Sie hat bereits angekündigt, nicht am | |
| rot-schwarzen Bündnis zu rütteln. Neuwahlen hatte CDU-Chef und Innensenator | |
| Frank Henkel nach dem Wowereit-Rückzug abgelehnt. Allerdings will Henkel | |
| seine CDU bei den Wahlen 2016 zur stärksten Partei machen. In den Umfragen | |
| liegen die Christdemokraten jetzt schon vorn, der BER hat Wowereit viele | |
| Sympathien und die SPD viele Stimmen gekostet. | |
| Während Noch-Landeschef Jan Stöß angekündigt hatte, im Falle eines | |
| CDU-Wahlsiegs stehe die SPD nicht als Juniorpartner zur Verfügung, hatte | |
| sich Müller alle Optionen offengehalten. Auch Rot-Rot-Grün, heißt es aus | |
| seinem Umfeld, sei mit ihm möglich. Zu dem Linken-Landeschef Klaus Lederer | |
| pflegt Müller ein freundschaftliches Verhältnis, und die Grünen haben | |
| ohnehin auf Müller als Sieger gesetzt. Wowereit war dagegen für die | |
| Landesgrünen immer ein rotes Tuch gewesen. | |
| Nun aber geht es für Müller erst einmal darum, sich einen Amtsbonus zu | |
| erwerben. Um bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus im Herbst 2016 bestehen zu | |
| können, muss sich der langjährige Kronprinz, der schon abgemeldet war und | |
| dann als selbstbewusster Kandidat das Rennen machte, noch einmal neu | |
| erfinden. Dann muss Michael Müller, der immer noch einen Hang zum | |
| Introvertierten hat, den Wahlkämpfer der Berliner SPD geben. Nicht wenige | |
| glauben, dass er das schafft. | |
| 20 Oct 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| UWE RADA / BERT SCHULZ | |
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