# taz.de -- Das Trauma der Tataren | |
> MINDERHEIT Gegen die Annexion ihrer Heimat traten die Krimtataren am | |
> entschlossensten auf. Sie erkennen die neuen Mächte nicht an. Die drohen | |
> ihnen immer offener | |
VON DER KRIM KLAUS-HELGE DONATH | |
Natalja Poklonskaja ist leitende Staatsanwältin der Krim. Im letzten | |
Frühjahr avancierte die Juristin zu einem Medienmagneten: Streng, herrisch | |
und willfährig segnete sie den widerrechtlichen Anschluss der ukrainischen | |
Halbinsel an Russland als rechtens ab. Wer die staatliche Hoheit der | |
Russischen Föderation über die Krim nicht anerkennt, wird deportiert, | |
warnte sie vor Kurzem. Natalja Poklonskaja sitzt heute als Vertraute des | |
Republikchefs Sergej Aksenow fester im Sattel denn je. Mit ihrer Drohung | |
löste sie bei den Krimtataren Angst und Unverständnis aus. | |
Die wichtigste muslimische Minderheit auf der Krim war 1944 von Stalin nach | |
Usbekistan deportiert worden. Von den damals 300.000 Deportierten überlebte | |
nur die Hälfte die Zwangsverschickung in Viehwaggons. Erst Anfang der | |
1990er Jahre kehrten die Krimtataren aus der Verbannung in ihre seit | |
Jahrhunderten angestammte Heimat zurück, die inzwischen zur Ukraine | |
gehörte. | |
„Solche Äußerungen machen uns Angst“, sagt Elsara Isljamowa, die | |
Generaldirektorin des krimtatarischen TV-Senders ATR in Simferopol. ATR ist | |
der weltweit einzige Kanal, der neben Russisch auch auf Krimtatarisch | |
sendet. Auch die russischsprachige Bevölkerung sieht ATR, das Programm | |
besteht zu 70 Prozent aus Beiträgen in Russisch. | |
Elsara kehrte nach dem Ende der Sowjetunion, als Mädchen, in die Heimat der | |
Eltern zurück. Im Konferenzraum des Senders hängt das Plakat zum Film | |
„Chaitarma“ (Rückkehr), der die Vertreibung zum Thema hat. 2013 hatte der | |
Film Premiere, ein paar Monate später wäre das nicht mehr möglich gewesen. | |
An dem Film wirkten viele Laien mit, die die Vertreibung noch am eigenen | |
Leibe erfahren hatten, sagt Elsara. Das Trauma der Eltern hat die Kinder | |
nicht verschont. Auch Elsara lebt noch in der Geschichte der | |
Elterngeneration. Die Vertreibung ist zu einer untilgbaren Urerfahrung | |
geworden. Viele Völker der UdSSR wurden vertrieben, doch die Krimtataren | |
traf ein besonders schweres Los. | |
Gegen die Annexion im März dieses Jahres traten wohl deshalb von allen | |
Einwohnern der Halbinsel die Krimtataren am entschlossensten auf. Sie | |
wollen weiter ein Teil der Ukraine bleiben und erkennen die neuen Mächte | |
auf der Krim nicht an. Ihre Verweigerung brachte die jubelnde | |
russischstämmige Mehrheit gegen sie auf. | |
Die Situation nach dem Anschluss sei undurchsichtig und widersprüchlich, | |
meint die junge Fernsehdirektorin. Sie fürchtet, dass ihr Sender bald | |
geschlossen wird. Die erste Warnung flatterte Ende September bereits ins | |
Haus. In einem Schreiben des beim Innenministerium angesiedelten „Zentrums | |
für Extremismusbekämpfung“ in Simferopol wird der Sender davor gewarnt, | |
„Misstrauen gegen die Staatsmacht zu schüren“ und „russlandkritische | |
Haltungen zu fördern“. Auch die Verbreitung von „Furcht vor möglichen | |
Repressalien aufgrund religiöser und nationaler Merkmale“ berge die Gefahr | |
einer extremistischen Tätigkeit. Die Einschüchterung wirkt. Elsara wäre | |
bereit, auf die Nachrichtenprogramme zu verzichten, sollte das verlangt | |
werden – um Sprache und Kultur ihres Volkes zu retten. | |
Die ukrainische Krim kannte keine Pressezensur. Noch wissen die | |
Journalisten und Politiker mit der Umbruchsituation nicht umzugehen. In | |
einer Talkshow des ATR zur Möglichkeit der Schließung des Senders | |
korrigiert sich die Moderatorin noch im Satz: „Oh, dies hätte ich jetzt | |
lieber nicht mehr sagen sollen.“ | |
Ein Hinterbänkler aus dem neuen Krimparlament, der in einem Park am | |
Gaspraly-Denkmal von einem Lokalsender interviewt wird, gerät hingegen ins | |
Reden. Gewichtig auf den Hacken wippend, bewegt er dicke Brocken und | |
Kontinentalplatten der Geopolitik. Die Krim wird in seiner Rede zum Nabel | |
des russkij mir, der russischen Welt, und Wladimir Putin zum „Propheten | |
einer neuen Zeit“. Die Niederungen der Politik interessieren ihn nicht. | |
Dann müsste er über Engpässe bei der Wasserversorgung, die fatale | |
Verkehrslage der Insel oder über Stromknappheit sprechen. | |
Er weiß wohl auch nicht, hinter wessen Rücken er die Welt neu ordnet. | |
Ismail bey Gaspraly war einer der wichtigsten krimtatarischen | |
Intellektuellen an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert. Der Verleger | |
und Pädagoge setzte sich für die Einheit der Turkvölker ein und plädierte | |
für eine Modernisierung des Islam mithilfe einer Annäherung an Europa. | |
Etwas, was noch verpönter wäre als Europäisierung, kennt die russische Welt | |
zurzeit jedoch nicht. | |
Nariman Dschelal würde Gaspraly heute noch zustimmen. Der Journalist und | |
Politologe sitzt im Restaurant Markant gegenüber dem Gaspraly-Park bei | |
Baklawa, süßem Blätterteiggebäck mit Walnüssen, und grünem Tee. Das Marka… | |
ist auch Versammlungsort, wenn das Gebäude des Medschlis, des | |
Selbstverwaltungsrates der Krimtataren, blockiert ist – wie zurzeit wieder | |
einmal. Am 17. September räumte die Polizei das Haus. Einige Vertreter des | |
Medschlis hatten zuvor zum Boykott der Regionalwahlen aufgerufen. Der | |
Medschlis ist ein Exekutivrat, der vom krimtatarischen Parlament, dem | |
Kurultai, gewählt wird. Beide Selbstverwaltungsorgane sind in der | |
russischen Gesetzgebung jedoch nicht vorgesehen. | |
„Die Ukraine hat uns keineswegs verwöhnt“, sagt Dschelal, der nebenher auch | |
noch Abgeordneter des Medschlis ist. Feindseligkeiten habe es aber nicht | |
gegeben. Eher habe Kiew Gleichgültigkeit und Desinteresse gezeigt. „Wir | |
sind dennoch für die Ukraine, weil ihr Streben nach Europa das Land | |
zivilisieren und uns als Minderheit endlich Rechtssicherheit garantieren | |
würde.“ | |
Inzwischen hat sich Moskau als Hüter und Schöpfer rechtsfreier Räume | |
niedergelassen. Russland hat dem kleinen Volk keine Zeit gelassen, sich mit | |
der neuen Lage vertraut zu machen, klagt Dschelal, der zu den gemäßigten | |
Fraktion der Krimtataren gehört. Er ist kein Russenfresser, eher ein | |
Realist, der bedauert, dass die Machthaber in Moskau und auf der Krim den | |
Dialog mit den Krimtataren verweigern. | |
Das Gebäude des Medschlis ist geschlossen, die Tür versiegelt. Nur die | |
hellblaue Fahne des malträtierten Turkvolks mit dem gelben Runenzeichen | |
hängt noch an der Außenfassade. Schlampige Arbeit des Räumkommandos. Der | |
heutige Vorsitzende der Medschlis, Refat Tschubarow, und sein Vorgänger, | |
Mustafa Dschemiljew, sind schon vor Monaten durch die Behörden zu Personae | |
non gratae erklärt und verstoßen worden. Sie sitzen nun in Kiew. | |
„Rund 80 Prozent der Krimtataren stehen nach wie vor zum Medschlis“, meint | |
Ilmi Umerow. Der 57-Jährige schaut von der Terrasse seines Lieblingscafés | |
hinunter auf Bachtschyssaraj, nahe Sevastopol, im Süden der Krim. In der | |
alten Hauptstadt der Krimtataren war er bis zu den Regionalwahlen am 15. | |
September noch Bürgermeister. Er hätte sich wiederwählen lassen können. | |
„Ich bin zurückgetreten, weil ich keinen russischen Amtseid leisten | |
wollte“, sagt Umerow. | |
Ende der 1980er Jahre kehrte er aus der Verbannung zurück, als Gynäkologe | |
wollte ihn damals niemand anstellen. Die neuen russischen Siedler sahen in | |
den Rückkehrern Konkurrenten, die ihnen Land, Haus und Arbeit streitig | |
machen wollten – obwohl die Vertriebenen keine Ansprüche auf das alte Hab | |
und Gut anmeldeten. Nach und nach ließen sie sich auf Brachland nieder. Die | |
illegale Landnahme macht sie bis heute zu Geiseln. Erst vor wenigen Tagen | |
erinnerte Kremlchef Putin die unbotmäßigen Tataren an die noch | |
regulierungsbedürftigen Besitzverhältnisse. Ein drohender Wink mit dem | |
Zaunpfahl, der die russischen Nationalisten auf der Krim anstacheln könnte. | |
Umerow war auch einmal Vizepremier der Krim. Noch lässt ihn die Staatsmacht | |
in Ruhe, an die er nur eine Bitte richtet: „Verlasst unser Land.“ In | |
letzter Zeit hätten die Hausdurchsuchungen zugenommen. Die Häscher kommen | |
nachts, um die Scham muslimischer Familien noch zu vergrößern, meint | |
Umerow. Sie suchen Waffen, Drogen und „extremistische Literatur“. Als | |
solche gelten islamistische Texte, die in Russland auf dem Index stehen, in | |
der religiös laxeren Ukraine jedoch nicht verboten waren. | |
Auch Vermisste sind schon zu beklagen, meint eine Frau im Palast der Gärten | |
in Bachtschyssaraj, wo einst der Khan der Krimtataren residierte. 40 | |
Vermisste seien es wohl, flüstert sie. Menschenrechtsorganisationen haben | |
bisher offiziell 18 Männer gezählt, die seit der Annektion im März | |
verschwanden oder umgebracht wurden. Die Krimtatarin hat Angst vor der | |
Zukunft, weil sie wie die Vergangenheit aussehen könnte. Eine alte Frau aus | |
der Bekanntschaft, erzählt sie, packe jeden Abend ihren Koffer. Die Kinder | |
räumten ihn dann wieder aus. | |
27 Oct 2014 | |
## AUTOREN | |
KLAUS-HELGE DONATH | |
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