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# taz.de -- Hier spricht nicht mal mehr Nietzsche
> Ein alter Mann schnaubt vor Wut. Mit „Nord“ hat Frank Castorf
> Louis-Ferdinand Célines Roman „Norden“ auf die Bühne der Wiener
> Festwochen gebracht
VON UWE MATTHEISS
Am Anfang spannt sich ein mannshohes weißes Papierband quer über die Bühne
der Halle E im Wiener Museumsquartier. Darauf in schwarzen Lettern eine
Reihe von Währungssymbolen: Yen, Dollar, Euro, Złoty, die Zeichen der
Sieger. Ein Markt, ein politischer Raum, eine Reihe von Verordnungen und
Vorschriften – das neue Europa ist das alte, nur dass seine Klüfte und
Scharten eingeebnet sind durch die Errungenschaften von freedom and
democracy. Später wird alles in Fetzen gerissen, in Kunstblut getränkt, zu
Kleinholz gehauen, bestampft und beschrien, mit pyrotechnischen
Gewehrsalven belegt von Kombattanten der Volksbühne Berlin, die einen die
Sinne verstörenden Krieg entfachen.
Frank Castorf, eingeladen zu den Wiener Festwochen, gekommen mit dem
Schauspiel „Nord“ nach Louis-Ferdinand Célines Roman „Norden“, misstra…
den Anfängen, den Gründungsakten, den Einheiten, die kein Außen kennen. Er
gräbt nach Material, das die Brüche und die Vorgeschichten mitliefert. Er
hat in der Betrachtung geschichtlicher Prozesse immer wieder versucht, die
Perspektive der Verlierer synchron einzubeziehen, ohne sie sich anzueignen.
Für die Wiener Inszenierung macht er sich gemein mit einem vor Selbst- und
Fremdverachtung brüllenden Greis. „Norden“ von Louis-Ferdinand Céline
(1894–1961) ist ein Spätwerk des mitleidslos blickenden Armen- und
Wundarztes aus kleinen Verhältnissen.
Céline – das ist einerseits die singuläre Begabung, die den Klang der
gesprochenen und beschädigten Sprache stethoskopisch aufgenommen und dabei
die französische Prosa des 20. Jahrhunderts revolutioniert hat,
andererseits der eifernde Rassist, Antisemit und Kollaborateur. Er hat sein
eigenes Todesurteil, das in seiner Abwesenheit in Frankreich ausgesprochen
wurde, so konsequent herbeigeschrieben, als sei es selbst das literarische
Projekt einer verflossenen Avantgarde. Begnadigt und vergessen kehrt er
1951 nach Frankreich zurück, schäumt und schleimt gegen all jene, die sich
auf der richtigen Seite wiederfanden. Und doch kommt seiner Rezeption immer
wieder die Mär vom schlechten Gewissen der hegemonialen Kulturlinken
zugute, nach der der Außenseiter erst nach dem Ausbleiben offiziöser
Beachtung ganz nach rechts sich vergaloppiert habe.
Das Schauspiel „Nord“ handelt vom Umherirren eines Ich-Erzählers namens
Céline im untergehenden Nazireich, vom Baden-Baden der Kollaborateure über
das zerbombte Berlin zum Ende der Welt in Brandenburg. Ein Untergang, den
Castorf erklärtermaßen zum Anti-Hirschbiegel umzuzüchten trachtet. Aus
„Nord“ spricht nicht einmal mehr Nietzsche, eine ästhetisch gestimmte Welt
jenseits des moralischen Universums behauptend, sondern nur noch ein
wutschnaubender Alter, der sich angesichts des Unflats dieser Welt auf
beiden Seiten zu rechtfertigen sucht wie ein unverbesserlicher
Stalingrad-Kämpfer.
Was nur finden die Volksbühnenkempen an Céline, von dem sich nicht so
einfach sagen lässt, was Adorno über Gottfried Benn sagen konnte – er sei
besser als seine Ideologie? Es muss dieses Quantum an Hässlichkeit sein,
ohne die die Beschreibung der Welt von vornherein unwahr wird. Zwischen den
Kunstmitteln des 20. Jahrhunderts und seiner Realgeschichte besteht ein
unüberbrückbarer Zwiespalt. Je näher man Orten wie dem einstigen
Führerbunker kommt, umso zuverlässiger gehören hehre Menschendarstellung,
Einfühlung, Schauspielkunst in den Giftschrank. Sonst kommt am Ende nur der
putzige Onkel Adolf heraus, den eigentlich alle lieb haben, sofern es sie
nicht überhaupt graust.
Für die 14-köpfige Volksbühnen-Truppe bedeutet dies eine bisweilen auch
schmerzliche Simplifizierung der Mittel. Hacken zusammenknallen, losbrüllen
mit Pengpeng, Ratatata und Célines atemlosen Auslassungspünktchen. In der
großen Halle des Wiener Museumsquartiers, der Pferdedressur wohl dienlicher
als dem Theater, entschwinden Reste von Kenntlichkeit ins gänzlich kakofone
Stakkato.
Dafür gelingen dem Bühnenbildner Bert Neumann Bilder, die erst einmal
verdaut werden wollen. Die Nachbildung eines Reichsbahnwaggons kracht in
eine Reihe Regale und streut einen Haufen Bücher auf die Vorderbühne.
Bernhard Schütz kullert heraus mit Kniehosen, Baskenmütze und Rotzfliege
unter der Nase, der erste Céline für diesen Moment. Zwei Herren als Damen
schnattern im Falsett über die Judenverfolgung in Frankreich, dahinter am
Bühnenrand der Hohn aus kulturindustrieller Massenware: „die another day“.
Von da an fünf Viertelstunden Austreibung kulinarischer Zuschauerbegierden,
nach jeder Gewehrsalve gehen welche, andere klettern dafür über die
Brüstung auf die verwaisten besseren Plätze. Aber auch die Schlacken werden
ausgetrieben, dazu gehört Céline selbst, der nur noch das semantische
Gerippe liefert für eine bloody mess im Tempo einer Nummernrevue.
Das SS-Mandolinenorchester unter der Leitung von Sir Henry spielt auf zu
Ringelpiez, Totentanzmotiven und rhythmischem Matratzehüpfen im
Reichsbahnwaggon. In der zweiten, dritten Stunde siegt das theatralische
Moment über das Erzählen, die Jahrmarktbude über die Literatur, die
kollektive Aktion gegen die Figurenperspektive. Der ganze Abend eine
Implosion, aus der sich neue, raue Schönheit noch unscharf abzeichnet.
11 Jun 2007
## AUTOREN
UWE MATTHEISS
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