# taz.de -- Schiffsunglück spaltet Südkorea | |
> AUFARBEITUNG 36 Jahre Haft für den Kapitän der Unglücksfähre „Sewol“. | |
> Zunächst hat der Schiffsuntergang die Bevölkerung in Trauer geeint, doch | |
> heute ist sie stark polarisiert | |
AUS SEOUL FABIAN KRETSCHMER | |
Mit gesenktem Blick und zitternden Händen steht Lee Jun-seok vor dem | |
Richter. „Für mein Verbrechen habe ich den Tod verdient“, sagt der | |
69-Jährige bei seiner Anhörung. Als Kapitän führte er die Fähre „Sewol�… | |
den Untergang. Die Mordanklage wurde zwar fallengelassen, doch wegen | |
Fahrlässigkeit wird Lee am Dienstag zu 36 Jahren Haft verurteilt. 14 | |
Crewmitglieder erhalten zwischen 5 und 30 Jahren. „Wieso lasst ihr sie | |
nicht gleich ganz frei, damit wir sie bestrafen können“, schreit ein | |
wütender Angehöriger im Gerichtssaal. Draußen fordert eine Menge die | |
Todesstrafe für den Kapitän. | |
Bei dem Fährunglück im Gelben Meer waren am 19. April 304 Passagiere, meist | |
Oberschüler, ertrunken. Eine Untersuchung wies später nach, dass die | |
Tragödie zu verhindern gewesen wäre. Eine Mischung aus Profitgier, | |
Korruption und konfuzianischer Autoritätshörigkeit waren der Nährboden für | |
die Katastrophe. Diese sei letztlich der Auswuchs eines Systems, das | |
Wirtschaftswachstum zur höchsten Maxime erhoben hat, waren sich die | |
Kommentatoren der großen Tageszeitungen damals einig. | |
Die Fähre führte das Zweifache ihrer zulässigen Last, die zudem nur | |
ungenügend gesichert war. Eine „gängige Praxis“, wie Kapitän Lee bei sei… | |
Anhörung beteuerte. Um sein eigenes Leben nicht zu gefährden, so die | |
Richter, ordnete er die Evakuierung des sinkenden Schiffes erst an, als es | |
für viele Schüler bereits zu spät war. Er selber rettete sich bereits mit | |
dem ersten Boot. Monatelang zeigte sich die gesamte Nation in tiefer Trauer | |
geeint. Die Geschichte eines Vaters, der aus Protest 46 Tage von Salz und | |
Wasser lebte, fesselte die Nation. Er wolle endlich die wahren Hintergründe | |
für den Tod seiner Tochter wissen, erklärte er. | |
Doch nur wenig später inszenierten rechtsextreme Aktivisten Fressorgien | |
neben dem Zeltcamp mit dem Hungerstreik der Hinterbliebenen und | |
denunzierten sie als „pronordkoreanische Kommunisten“. Auch unter den | |
konservativen Regierungsanhängern schlug die Stimmung allmählich um. Die | |
Angehörigen würden das Land als Geisel nehmen, lautete ihr Vorwurf. | |
So kam das Parlament beim Streit über die Aufklärung des Unglücks | |
vollständig zum Stillstand. Über drei Monate lang wurden keine Gesetze | |
verabschiedet, nicht einmal dringend nötige Wirtschaftsreformen. Die | |
Opposition forderte die Einbindung der Angehörigen beim | |
Untersuchungsausschuss, die Regierungspartei lehnte ab. „Das | |
‚Sewol‘-Disaster hat den ideologischen Krieg in unserem Land weiter | |
verschlimmert“, schrieb der Kommentator Lee Byong-ik. | |
Noch immer scheint eine öffentliche Debatte über das gesellschaftliche | |
Trauma unmöglich. Erst letzte Woche wurde ein 24-Jähriger Student | |
angeklagt, „illegale Proteste“ organisiert zu haben, die die | |
Aufklärungsarbeit der Regierung kritisierten. | |
12 Nov 2014 | |
## AUTOREN | |
FABIAN KRETSCHMER | |
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