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# taz.de -- Berlin als Schrein
> QUEER Der Anthropologe Omar Kasmani forscht über Fakire in Pakistan. Eine
> Vielzahl von ihnen sind Khadra – sie gehören dem dritten Geschlecht an
VON JASMIN KALARICKAL (text) UND MIGUEL LOPES (FOTO)
Schon an der Eingangstür des Silver Future im Berliner Stadtteil Neukölln
wird deutlich, dass dies nicht irgendeine Bar ist: „Willkommen, Sie haben
gerade eben den heteronormativen Sektor verlassen“ steht dort geschrieben.
Omar Kasmani, 37, ein gläubiger Muslim, bestellt sich einen Gin Tonic am
Tresen und setzt sich in einen Ohrensessel mit Blumenmuster nahe am
Fenster. „Ich mag die Vorstellung von festen Identitäten nicht“, sagt er.
An der roten Wand ihm gegenüber hängt ein Bild von Audrey Hepburn mit
schwarz aufgemaltem Schnauzer. „Ich bin nicht schwul, wenn überhaupt
bisexuell, aber wenn ich mich schon labeln soll, dann queer.“ Ihm gehe es
um mehr als eine sexuelle Vorliebe. Dann sagt er: „Und ja, ich bin ein
Muslim, ein südasiatischer Muslim.“
Damit ist er gleich bei dem Konflikt, dem er selbst gegenübersteht. In
Pakistan ist gleichgeschlechtliche Liebe nicht nur ein gesellschaftliches
Tabu, sondern auch ein Straftatbestand. Ein Thema, das Kasmani sowohl
persönlich betrifft als auch beruflich beschäftigt. An der Freien
Universität in Berlin hält er zurzeit ein Seminar zum Thema Gender und Raum
in muslimischen Gesellschaften. Ein sensibles Thema, steht der Islam in der
westlichen Welt doch allzu häufig für die Unterdrückung der Frau, für ein
traditionelles, konservatives Weltbild, in dem es wenig Raum für Abweichung
gibt.
Kasmani zieht mit seinen Händen eine imaginäre Linie nach und bezieht sich
dabei auf die Wissenschaftlerin Sara Ahmed, die sich mit Queerness und
Postkolonialismus beschäftigt. Sie schreibt über eine gerade
gesellschaftliche Linie, die festhält, wann ein Mann ein Mann und eine Frau
eine Frau ist – und wann nicht. Eine Linie, die durch Wort und Tat
aufrechterhalten wird.
„Als ich klein war, musste ich meinen Gang üben, weil er für meinen Vater
nicht bestimmt genug war“, sagt Kasmani, der gemeinsam mit zwei
Geschwistern in einer Familie aufwuchs, die einen modernen Islam
praktiziert. Er betete anders als seine Eltern, weil er es anders machen
wollte. Sein Vater ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, seine Mutter
Hausfrau. Kasmani tanzte gern. Er fotografierte, schrieb Geschichten, er
übersetzte, beschäftigte sich mit Kunst. Er ging nicht gern in Moscheen.
„Vielleicht war es das Unbehagen, nur von Männern umgeben zu sein.“ Kurz
gesagt: Er wich von seiner Linie ab, konnte das aber noch nicht für sich
artikulieren. Also versuchte er, gerade zu gehen. Kasmani studierte
Architektur, heiratete im Alter von 27, bekam einen guten, sicheren Job.
Nur glücklich war er nicht.
Er ist fast dreißig, als er beschließt, einen anderen Weg zu gehen. Er geht
nach London, um Muslim Cultures zu studieren. Er fängt an, sich mit dem
Sufismus, einer mystischen Strömung im Islam, zu beschäftigen, bei der ihm
auf der Suche nach Gott auch Tanz und Musik wichtig sind. Er hatte das
Bedürfnis nach einem distanzierten, anderen Blick auf seine eigene Kultur.
Auf einen Teil von sich selbst. „Ich brauchte einen soziologischen Blick
auf den Islam“, sagt er. „Das kann ich auch nur auf Englisch tun.“ Aber
egal wo er ist, in Karatschi, London oder Berlin, er träumt immer in seiner
Muttersprache Urdu.
Im Juli 2009 fährt er erstmals nach Sehwan Sharif, eine kleine Stadt im
Süden Pakistans. Zum Schrein, in dem der Sufi Lal Shahbaz Qalandar begraben
liegt. Kasmani beginnt eine Feldstudie über sogenannte Fakire, Anhänger des
Sufismus. Jedes Jahr an Qalandars Sterbetag pilgern über eine halbe Million
Gläubige zu diesem Schrein, um Urs, die göttliche Vereinigung, in einem
karnavalesken Treiben mit Trommeln und Trompeten zu feiern. Zu diesem Fest
kommen Hindus und Muslime, Sunniten und Schiiten, Arme und Reiche, Frauen
und Männer und zahlreiche Außenseiter zusammen. Kasmani blieb nicht zum
Fest, sondern ging, als es begann. Dass er diesen Ort aber nicht mehr
loslassen konnte, lag vor allem an einer Frau, die er dort traf. Eine
achtfache Mutter, die nach 25 Jahren Ehe beschloss, ein weiblicher Fakir zu
werden, sexuell enthaltsam zu leben. Nun war sie für sechs Monate allein,
ohne männliche Begleitung an diesem Schrein und arbeitete daran, sich mit
Gott zu vereinigen. Ihr Mann war damit einverstanden. Sie trug viele
Armreifen an ihren Handgelenken und Fesseln als Zeichen dafür, an Gott
gebunden zu sein.
„Was ist das für eine pakistanische Frau, die so anders ist als meine
Mutter?“, fragte sich Kasmani, der an seinem linken Arm ebenfalls drei
Armreifen trägt. Diese Frau war allein, ungebunden, selbstbestimmt. Sie
ging einen unkonventionellen Weg. „Aber dennoch war das, was sie tat, nicht
‚willkürlich‘ “, sagt Kasmani. Sie handelte in ihrem kulturellen Kontext,
ihr Ehemann hätte sonst nicht zugestimmt.
Kasmani schreibt heute seine Doktorarbeit über männliche und weibliche
Fakire an diesem Schrein. Unter männlichen Fakiren fand er eine Vielzahl
von Khadra – dem dritten Geschlecht, ein Begriff, der in Pakistan
Intersexuelle, Transsexuelle und Transvestiten umfasst.
Menschen, die auch im Silver Future in Berlin-Neukölln willkommen wären.
Während Kasmani hier an diesem queeren Ort über Abweichungen spricht, wirkt
alles an ihm selbst so geordnet, das weiße Hemd aus Pakistan mit dem
Mandarinkragen, sein gepflegter Dreitagebart, seine Woody-Allen-Brille mit
dickem schwarzem Rand.
Plötzlich wird im Silver Future die Musik lauter, und der Barmann fängt an
zu tanzen. „Oh, jetzt hab ich sehr viel über meine Arbeit gesprochen.“ Er
klingt fast überrascht. „Die Schreinkultur war immer weit weg von mir – sie
galt in unserer Familie als etwas für schwache, ungebildete Menschen.“
Dennoch stehen diese Schreine überall in Pakistan. Sie sind ein religiöser
Ort, der allen offen steht, ein Raum der Vermischung, ein Raum, der Kasmani
von jeher faszinierte. Vielleicht weil er einen solchen Raum für sich
selbst finden wollte. Aber er fand ihn nicht in Pakistan.
Er beschloss, nach Berlin zu gehen. „Ich bin einfach gesprungen“, sagt er.
Er trennte sich nach fast acht Jahren von seiner Frau, seiner
„Seelenverwandten“, die ihn heiratete, obwohl sie alles über ihn wusste.
Hatte er sein Coming-out? „Ich mag das Wort ‚Coming-out‘ nicht“, sagt
Kasmani.„Es ist eine westliche, christlich geprägte Vorstellung, die mit
Schuld verknüpft ist.“ Er lacht. Die Vorstellung, der Westen habe ihn
befreit, gefällt ihm nicht. Er sagt, dass es heute auch dort Möglichkeiten
gebe. Und doch bleibt er vorerst in Berlin. Bei seinem Schrein.
Es gibt die Legende, dass die Stadt Sehwan Sharif zu dem Zeitpunkt, als der
Sufi Lal Shabaz Qalandar dort ankam, schon voller Heiliger war. Diese
schickten ihm eine Schale, randvoll mit Milch gefüllt – als Zeichen dafür,
dass kein Platz mehr für ihn sei. Er jedoch nahm eine Blume und ließ sie
darauf treiben. „Das ist eine sehr schöne Geschichte“, sagt Kasmani leise,
bevor er geht.
15 Nov 2014
## AUTOREN
JASMIN KALARICKAL
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