| # taz.de -- Spagat zwischen Tradition und Globalisierung | |
| > AUSTAUSCH UND FÖRDERUNG „Africtions“ nennt sich ein neues Format, für d… | |
| > sich Festivals aus Ludwigshafen, Bremen und Bielefeld zusammengeschlossen | |
| > haben, um mit Tänzern und ChoreografInnen aus Ländern Afrikas zu arbeiten | |
| VON RENATE KLETT | |
| Es ist ungewöhnlich, dass sich gleich drei deutsche Festivals verbünden, um | |
| zeitgenössischen afrikanischen Tanz zu produzieren und zu präsentieren. Im | |
| Oktober und November zeigten das Theater im Pfalzbau aus Ludwigshafen, die | |
| Schwankhalle Bremen und DansArt aus Bielefeld „Afriction“. Neben berühmten | |
| Namen wie Germaine Acogny aus Senegal und Gregory Maqoma aus Südafrika | |
| waren auch handverlesene junge ChoreografInnen aus Benin, der Republik | |
| Kongo, Madagaskar, Südafrika und Tschad als „The Pioneers“ eingeladen. | |
| Jeder Ort fügte noch eigene Favoriten hinzu. | |
| Es begann mit der deutschen Erstaufführung der internationalen Koproduktion | |
| von „Coup fatal“ in Ludwigshafen, einem szenischen Konzert mit dem | |
| fantastischen kongolesischen Countertenor Serge Kakudji und 13 virtuosen | |
| Musikern aus Kinshasa, die europäische Barockmusik afrikanisch | |
| unterwandern. Der Jazzmusiker Fabrizio Cassol hat dafür Arien von Händel, | |
| Gluck und Vivaldi für Gitarren, Trommeln, Xylo- und Balafone bearbeitet, | |
| der belgische Choreograf Alain Platel einen szenischen Rahmen dafür | |
| geschaffen – und Kakudji singt sie so innig und glockenschön, dass einem | |
| schier das Herz zerspringt vor lauter Wehmut und Glück. | |
| Hier ist es einmal umgekehrt: Nicht Europa vereinnahmt die afrikanische | |
| Kunst, sondern Künstler aus Kinshasa eignen sich die europäische an. Das | |
| Ergebnis ist umwerfend, und es verbreitet so viel Lebensfreude und Kraft, | |
| Traurigkeit und Übermut, wie man sie trotz allen Elends jeden Tag auf den | |
| Straßen Kinshasas erlebt, aber nur selten in den reichen Theatern Europas. | |
| ## Hommage an die „Sapeurs“ | |
| Das hat etwas Subversives, weil es die Verhältnisse auf den Kopf stellt. | |
| Und es ist eine Hommage an die „Sapeurs“, Kinshasas bizarre Kultdandys, die | |
| der Armut und dem Dreck ihre Eleganz, Lebenslust und coole | |
| Slumdog-Überlegenheit entgegensetzen. Dieser „Coup fatal“ ist ein heilsames | |
| Antidot zu all den kommerziellen Afrika-Shows der letzten Zeit, steht er | |
| doch für Authentizität statt Klischee, große Kunst statt großen Profiten. | |
| Gregory Maqomas Auftragswerk für das Festival ist ein kurzes, prägnantes | |
| Duo mit dem Titel „Blind“, eine Studie zum Spagat zwischen traditionellen | |
| Formen und globalisierten Forderungen. Das Problem betrifft die ganze Welt, | |
| aber in afrikanischen Ländern, mit ihren oft vom Kolonialismus zerstörten | |
| Traditionslinien ist es besonders virulent. Zwei brillante Tänzer der | |
| südafrikanischen Vuyani Dance Comoany, mal versteckt in wallenden roten | |
| Umhängen (und quasi blind), mal entblößt in Boxershorts, stürmen mit | |
| rasanten Schritten, Sprüngen und Drehungen, mit wirbelnden Armen und Beinen | |
| über die Bühne, raumgreifend und selbstbewusst. Ein Gewitter aus Köpern und | |
| Musik, Verhüllung und Nacktheit, furios getanzt. | |
| Wie eine Antwort darauf erscheint in diesem Zusammenhang Germaine Acognys | |
| „Afro-Dites“. Die Grande Dame des zeitgenössischen afrikanischen Tanzes | |
| beschreibt hier das Leben im heutigen Senegal aus weiblicher Sicht. Bei ihr | |
| geht es ruhiger, verschmitzter und nachdenklicher zu; die jungen Frauen | |
| ihrer Kompanie Jant-Bi thematisieren die großen Sorgen und kleinen Freuden | |
| ihres Alltags mit viel Humor. Auch hier prallen alte und neue Werte, von | |
| Polygamie bis Prostitution, von Migrationswünschen bis Mutterpflichten | |
| aufeinander. Alles wird konkret und im Detail behandelt, nicht abstrakt wie | |
| bei Moqoma. Tanz und Rede sind impulsiv, sarkastisch, souverän und | |
| erfrischend optimistisch. | |
| Eine deutsch-senegalische Koproduktion ist „Boxom“. Der Choreograf Helge | |
| Letonja vom steptext dance projext in Bremen, der gemeinsam mit Jörg | |
| Fischer aus dem Theater im Pfalzbau „Africtions“ leitet, hat den Abend in | |
| Senegal mit senegalesischen Tänzern entwickelt. Wieder geht es um Leben und | |
| Überleben unter schwierigen Bedingungen, um Aus- und Umwege und die | |
| Hoffnung auf Linderung. Die aus Improvisationen entstandenen Szenen sind | |
| schärfer im Ton, aggressiver in der Bewegung als „Afro-Dites“ und gipfeln | |
| darin, dass die Tänzerinnen und Tänzer sich dem europäischen Publikum zur | |
| Heirat anbieten: Ein Visum ist der größte Wunsch, das Zauberwort heißt | |
| Schengen. Boxom hingegen bezeichnet auf Wolof ein zusammengeknülltes | |
| Papier, im übertragenen Sinn ein Lebensgefühl. | |
| Tchekpo Dan Agbetou ist ein Choreograf aus Benin, der seit vielen Jahren in | |
| Bielefeld lebt, dort das DansArt-Studio aufgebaut hat und das Festival | |
| „Biennale Passages“, das diesmal Teil von „Africtions“ ist. Sein neues | |
| Stück, „Mmiri Mizu Water“, handelt vom Wasser, das lebenserhaltend und | |
| -vernichtend sein kann. Die Bühne ist übersät mit wassergefüllten | |
| Plastiksäckchen, wie sie auf afrikanischen Märkten zum Sofortkonsum | |
| verkauft werden. Darauf und darin bewegen sich drei TänzerInnen aus | |
| Nigeria, Japan und Deutschland. Bizarre Bilder entstehen, wenn der | |
| Wüstensand übers Wasser hinwegläuft, die Akteure gegen den Matsch antanzen | |
| und das Publikum die verteilten Wassersäckchen dazwischenwirft. Dass die | |
| kommenden Verteilungskämpfe um Wasser geführt werden, bleibt dabei immer | |
| präsent. | |
| ## Brutale Schönheit | |
| Bei der Ivorerin Nadia Beugré sind die Wasserflaschen leer, und es gibt | |
| Hunderte davon, aufgefädelt zum riesigen Plastikvorhang, zusammengesteckt | |
| zu einem grotesken Clownskostüm, in das sie am Schluss mühsam | |
| hineinkriecht. „Quartiers libres“ ist ein Solo von brutaler Schönheit, eine | |
| waghalsige Tour de Force im Kampf gegen den eigenen Körper, die ganze Welt | |
| und überhaupt. Doch es ist ein Kampf, der immer spielerisch bleibt, | |
| mitunter fast zärtlich ist. Die Tänzerin, exzessiv und unberechenbar, | |
| springt ins Publikum, knallt sich auf den Boden, an die Wand, singt, | |
| schreit, tobt über die Bühne, verschnürt sich ins Mikrofonkabel, rast in | |
| den Vorhang aus Plastikflaschen, hangelt sich hinauf, lässt sich | |
| herunterfallen, rollt schließlich in ihrem Flaschenkostüm auf dem Boden wie | |
| ein todgeweihter Käfer. Es gehört viel Mut dazu, sich einem Publikum so | |
| schonungslos auszuliefern, ohne Schutz und Rückzugsmöglichkeit. | |
| Mut beweist auch Mamela Nyamza aus Südafrika, deren Solo „Wena Mamela“ die | |
| aufregendste Arbeit des „Pioneer“-Programms ist. Sie stellt die | |
| Grundsatzfrage, was es bedeutet, als Afrikanerin vor einem europäischen | |
| Publikum zu tanzen. Heißt es, dass man es „geschafft“ hat, oder verkauft | |
| man sich? | |
| Die Bühne ist zweigeteilt. Auf der linken Seite tanzt sie ungelenk und | |
| kindlich im Bikini, so wie sie es als Achtjährige in ihrer ersten | |
| Ballettstunde tat. Dann wechselt sie zur anderen Seite, baut sich einen | |
| Garten, verwandelt sich in eine lebensgroße Kostümpuppe mit geflochtenem | |
| Bastgesicht auf dem Hinterkopf. Die janusköpfige Urmutter windet und krümmt | |
| sich, schnatzt, stammelt, stöhnt und knirscht, bis sie zur Sprache findet | |
| und das Land bestellt. Schließlich wird sie zur stolzen African Queen – | |
| oder ist es die Großmutter, die das Kind behütet und erzieht? Es ist eine | |
| sehr persönliche Arbeit, rätselhaft gedacht und fabelhaft gespielt. Am Ende | |
| steht sie wieder auf der linken Bühnenseite und befragt sich und das | |
| Publikum zu den jeweiligen Erwartungshaltungen und dem darin verborgenen | |
| Gift vorgefertigter Bilder. | |
| Eine Initiative wie „Africtions“ kann vielleicht dazu beitragen, dieses | |
| Gift ein wenig zu neutralisieren. | |
| 19 Nov 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| RENATE KLETT | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA |