# taz.de -- „Die Zeit des Philosophierens ist vorbei“ | |
Ernst Tugendhat, Philosoph und Kritiker deutschen Pseudotiefsinns, nimmt | |
Abschied. Ein Gespräch über Todesangst, Heidegger, Antisemitismus und | |
haltlose Spekulationen in der Hirnforschung | |
INTERVIEW ULRIKE HERRMANN | |
Zwei Stunden am Nachmittag sollte das Interview dauern, doch es wurde fast | |
Mitternacht. Es begann beim Tee und endete mit Whisky. Ernst Tugendhat, 77, | |
hat gezögert, ob er das Gespräch wirklich gedruckt sehen will. Schließlich | |
kam ein Brief aus Tübingen. „Ich finde den Text jetzt o.k.“, stand da sehr | |
zurückhaltend in den runden Lettern seiner alten Schreibmaschine. Tugendhat | |
mailt nicht gern; seine Gedanken reisen noch immer mit der Post. | |
taz.mag: Herr Tugendhat, in Ihrer neuesten Philosophie thematisieren Sie | |
die Angst vor dem Tod. Wann haben Sie diese Angst erstmals erlebt? | |
Ernst Tugendhat: Den ersten Vortrag zum Tod habe ich mit 64 Jahren | |
geschrieben. Ich war damals in Chile, allein, und hatte das Gefühl, dass | |
ich nur noch den Tod vor mir habe. Aber vielleicht war ich sowieso für das | |
Thema Tod offen, weil ich ja als Heidegger-Schüler angefangen habe, wo der | |
Tod auch eine große Rolle spielt. Wenn ich mir vorstelle, dass ich nur noch | |
kurze Zeit zum Leben habe, dann erschrecke ich. Nicht weil ich unbedingt | |
weiterleben will, sondern weil ich finde, dass ich mich verzettelt habe und | |
eigentlich ganz anders leben müsste. | |
Und wie? | |
Das weiß ich nicht. Ich habe nur diese Sorge, dass ich die Hauptsache | |
verpasst haben könnte. Allerdings ist dieses Gefühl inzwischen durch die | |
Mystik an den Rand gedrängt worden. | |
Aber wie kann Mystik helfen? | |
Sie hilft erkennen, dass man sowieso nicht so relevant ist. Das hat zu tun | |
mit dem Staunen vor dem, was Heidegger das Sein nannte, oder, wie | |
Wittgenstein sagte, dass es überhaupt diese Welt gibt. | |
Wenn man selbst nicht wichtig ist – woher stammt dann die Motivation, zu | |
leben? Ist es nicht lähmend, zu glauben, alles sei wichtig, nur man selbst | |
nicht? | |
Nein, ich bin genauso wichtig – aber eben nur genauso. Im Übrigen habe ich | |
durchaus philosophische Ambitionen und freue mich, wenn ich Erfolg habe mit | |
meinen Sachen, aber das verachte ich eigentlich. Ich versuche, mich weniger | |
wichtig zu nehmen, aber faktisch erlebe ich, wie wichtig ich mich nehme. | |
Wäre das kein Grund, Ihre Theorie zu überdenken, dass man sich relativieren | |
soll? | |
Nein. Mystik und Egozentrizität sind keine Alternativen, die sich | |
ausschließen. Ich glaube, dass ein Mensch nie darüber hinwegkommt, auch als | |
Mystiker nicht, sich selbst wichtig zu nehmen. Wenn er Mystik macht, ist er | |
ja daran interessiert, dass ER Mystik macht. Es gibt dieses Gefälle | |
zwischen dem Sich-übertrieben-wichtig-Nehmen und der Gelassenheit, sich zu | |
relativieren. | |
Wenn man sagt: Ich bin nicht wichtig, dann sagt man doch auch: Ich bin | |
nicht wichtig für andere. Kann es dann noch Liebe geben? | |
Zur Liebe gehört es natürlich, dass man sich wechselseitig zu verstehen | |
gibt, dass man sich wichtig findet. Ich glaube nur, dass es eine | |
Verselbstständigung dieses Moments gibt. | |
Mir scheint trotzdem, dass man die Überwindung der Angst vor dem Tod bei | |
Ihnen damit erkauft, dass man keine Leidenschaften mehr hat. | |
Ja. | |
Dieser Preis erscheint mir hoch. | |
Schauen Sie, diese beiden Gegensätze sind ja nur Gegensätze innerhalb eines | |
Spannungsverhältnisses. Nehmen Sie einen Fall wie Eitelkeit. Eitelkeit | |
würden wir alle als komisch empfinden, weil sie eine Übertreibung der | |
eigenen Wichtigkeit ist. | |
Sind Sie denn eitel? | |
Wir sind alle egozentrisch. Aber manche sind reflektierter als andere. Und | |
die Eitlen sind besonders unreflektiert. | |
Darf man sich an seinen Erfolgen freuen? | |
Gute Frage. Ja, würde ich sagen – wenn man es nicht übertreibt. | |
Welcher Erfolg hat Sie denn am meisten gefreut? | |
Als ich zum ersten Mal Professor wurde in Heidelberg. Da habe ich enorm | |
aufgeatmet. In den Jahren davor, in diesen ganzen Jahren als Assistent in | |
Tübingen, habe ich nicht an mich geglaubt. Ich habe in den Zeitungen | |
Annoncen gelesen, aber ich habe nie etwas gefunden, wozu ich mich fähig | |
fühlte. Ich hatte kein Zutrauen zu mir als Philosoph. Ich hatte ein | |
Minderwertigkeitsgefühl – das ist bei vielen Leuten so, die andererseits | |
hochmütig sind. | |
Sie waren hochmütig? | |
Im Grunde hatte ich immer hohe Vorstellungen von mir selbst. Allmählich hat | |
sich mein Selbstbewusstsein dann gefestigt, aber ich bin immer noch in | |
einem Ausmaß davon abhängig, wie man auf meine Vorträge reagiert, das ich | |
übertrieben finde. Das deprimiert mich. Obwohl meine Vorträge in | |
Deutschland immer gut aufgenommen werden, aber in den angelsächsischen | |
Ländern nicht. | |
Woher rührt dieser Unterschied? | |
Hier findet ja sehr viel Schaumschlägerei im Unibetrieb statt, während in | |
England und in den USA ganz anders nachgefragt wird. Zumal bei mir, weil | |
mein Denkstil eher angelsächsisch ist. Viele deutsche Kollegen haben es in | |
Amerika einfacher, weil man dort denkt, ach, das ist irgend so ein | |
deutscher Tiefsinn, der so tiefgründig ist, dass er sowieso nicht zu | |
verstehen ist. | |
Gute Philosophie wird heute also nur noch in England und den USA gemacht? | |
Nein. Ich glaube schon, dass man in Deutschland etwas mehr Bewusstsein | |
dafür hat, was die großen Fragen sind. Dafür hat man weniger methodisches | |
Bewusstsein und sehr wenig Diskussionsdisziplin. Nach einem Vortrag stehen | |
in Deutschland viele Leute auf, die irgendetwas daherreden und sich nicht | |
auf den Redner beziehen. Die Deutschen neigen zum Koreferat. | |
Wie ist Ihr Verhältnis zum Kollegen Jürgen Habermas? Sie kennen sich ja | |
schon sehr lange. | |
Das ist eine zu komplizierte Frage. | |
Darf ich sie nochmals inhaltlich stellen? Auch Habermas entdeckt jetzt die | |
Religion. | |
Aber ganz anders. Er selbst hat kein religiöses Bedürfnis, das sagt er | |
auch. Und was ihn an der Religion interessiert, weiß ich nicht genau. Aber | |
jedenfalls nicht das, was mich interessiert. Ich habe durchaus ein | |
Glaubensbedürfnis. Ihn interessieren die moralischen Komponenten in der | |
religiösen Tradition, nicht die Religion als solche. | |
Ihr neuestes Buch wirkt paradox. Mit dem starken Bezug zum Tod scheint es | |
ein Abschied zu sein – und wirkt zugleich wie ein Neuanfang. | |
Wieso haben Sie den Eindruck von Neuanfang? | |
Weil Sie neu zu klären versuchen: Was ist Philosophie? Was ist ihre | |
Methode? Gibt es eine Gesamtfrage, die die Einzeldisziplinen der | |
Philosophie überwinden kann? | |
Ich sage in dem Vorwort, dass mir sehr unzureichend scheint, was ich bisher | |
zu bestimmten Themen gesagt habe. Ich habe schon bei dem vorigen Buch | |
angekündigt, es sei mein letztes. Und dann habe ich doch noch diese | |
Aufsätze geschrieben, die jetzt im März erschienen sind. Aber jetzt, glaube | |
ich, ist es wirklich das letzte Buch. | |
Weil Sie mit sich zufrieden sind? | |
Nein, aber schauen Sie, im Sommer ziehe ich nach Brasilien um. Ich habe das | |
Gefühl, dass für mich die Zeit des Philosophierens vorbei ist. | |
Nehmen Sie Ihre Schreibmaschine mit? | |
Ich kann nur denken, wenn ich an der Schreibmaschine sitze. Ich habe da so | |
kleine Blätter, in DIN-A5-Format, wenn ich für mich arbeite. Rechts ist die | |
laufende Nummer, links das Datum. Ich ordne sie chronologisch. | |
Da stapeln sich etwa zweitausend Manuskriptseiten. Wie finden Sie Ihre | |
Gedanken wieder? | |
Das ist manchmal schwer. Bevor ich 1999 aus Chile wegging, habe ich aber | |
alles weggeschmissen und alles verscherbelt, was noch einen Wert hatte. Ich | |
hänge nicht an Sachen. | |
Auch nicht an eigenen Gedanken? | |
Wenn ein Aufsatz geschrieben ist, können die Notizen weggeschmissen werden. | |
Das ist aber unerfreulich für einen möglichen Biografen. | |
Kurz vor dem Tod soll alles fortgeworfen werden. Ich will nicht, dass Leute | |
in Versuchung geraten, etwas zu veröffentlichen. Von Heidegger werden jetzt | |
sogar die Briefe an seine Frau publiziert – ich glaube nicht, dass er das | |
gutgeheißen hätte. Ich kann nicht verstehen, warum man annimmt, wenn jemand | |
tot ist, schulde man ihm keinen Respekt mehr und das innere Leben könne | |
nach außen gekehrt werden. | |
Trotzdem noch ein Hinweis für mögliche Biografen: Wie haben Sie Ihre | |
Freizeit verbracht? Von Ludwig Wittgenstein heißt es, er hätte vor allem | |
Kriminalromane gelesen. | |
In der längsten Zeit meines Lebens habe ich gar nichts anderes als | |
Philosophie gemacht. Vielleicht noch ein bisschen Musik gehört und Menschen | |
getroffen. Ich war ein Workaholic, glaube ich. | |
Gab es dafür Vorbilder? | |
Vielleicht meine Eltern. Mein Vater war sehr ruhig, sehr streng und hat | |
eine große Autorität ausgestrahlt. | |
Sie haben sich 25 Jahre lang vor allem mit der Ethik beschäftigt – und | |
jetzt im Alter wenden Sie sich plötzlich der Anthropologie zu. Wie kam es | |
zu diesem Themenwechsel? | |
In einem Aufsatz von 1999 gehe ich auf ein bestimmtes Problem bei Heidegger | |
ein, auf seinen Begriff vom „Man“. Dort versuchte ich zu zeigen, dass | |
Heidegger eine falsche Anthropologie hatte und seine eigenen Begriffe gar | |
nicht erklären kann. Das ist relativ zufällig erfolgt, aber dann habe ich | |
darauf aufgebaut. | |
Könnte man Ihr gesamtes philosophisches Leben auch so beschreiben, dass es | |
eine Überwindung von Heidegger ist? | |
Ja. Ich habe mit fünfzehn Jahren „Sein und Zeit“ gelesen. Damals habe ich | |
häufig mit meiner Mutter philosophische Texte studiert. Aber mehr aus | |
Freundlichkeit ihr gegenüber. Es war ihr furchtbar wichtig, Sachen mit mir | |
zusammen zu machen. So bald es ging, 1949, bin ich dann nach Deutschland | |
gekommen und habe mein ganzes Studium in Freiburg verbracht. | |
Heidegger hat den Ruf, dass er sehr unnahbar war. | |
Schauen Sie, er als Person war im Grunde nie sehr wichtig für mich. Als er | |
wieder rehabilitiert wurde, das war in meinem dritten oder vierten | |
Semester, da habe ich die drei Übungen mitgemacht, die er angeboten hat. | |
Ich habe ihn dann ab und zu in Freiburg besucht, und wir sind zusammen | |
spazieren gegangen. Ich hatte immer eine Heidenangst, ich fühlte mich | |
völlig unvorbereitet. Und dann hat er mir eine Karte geschrieben, wann ich | |
kommen soll, mit dem Zusatz: „Es bedarf keiner Vorbereitung.“ | |
Und später? | |
Als ich nicht mehr in Freiburg war, hatten wir einmal ein wirklich gutes | |
Gespräch – als ich anfing, im Rahmen meiner Habilitationsschrift seinen | |
Wahrheitsbegriff zu kritisieren. Es hat dann eine kurze Zeit gegeben, in | |
der er wahrscheinlich ganz angetan von mir war. Aber das persönliche | |
Verhältnis war ganz unwichtig für mich. Heideggers Nazismus war für mich | |
damals in einem Ausmaß nicht wichtig, das falsch war. Das war naiv. Das | |
habe ich mir später sehr vorgeworfen. | |
Weil Sie seinetwegen so schnell aus Ihrer Emigration in das Land der Täter | |
zurückgekehrt sind? | |
Das war ein sehr fragwürdiger Schritt. Ich kam mit einem Versöhnungsgestus, | |
der mir jetzt gegenüber den Opfern skandalös erscheint. Denn ich habe unter | |
der Naziherrschaft nicht gelitten. Auch die Emigration habe ich persönlich | |
nicht als Verlust erlebt. Für mich als Elfjährigen war die Schiffsreise | |
nach Venezuela ein Abenteuer. | |
Aber Sie mussten doch als Kind eines der berühmtesten Häuser der modernen | |
Kunstgeschichte verlassen: die Tugendhat-Villa, die der Bauhaus-Architekt | |
Mies van der Rohe für Ihre Eltern in Brünn errichtet hat. | |
Das Haus hat in meinem Leben keine Rolle gespielt, allenfalls eine eher | |
negative. Es ist mir völlig gleichgültig, wo ich wohne. Vielleicht ist das | |
eine Reaktion dagegen, dass man in unserer Familie dieses Haus so gepriesen | |
hat. | |
Warum dachten Sie so spät, dass es falsch war, so schnell wieder nach | |
Deutschland zu kommen? | |
Ich bin aufgewachsen in einem Umkreis von jüdischen Emigranten, die | |
Heidegger-Schüler waren und die so getan haben, als könnte man sein Werk | |
von seiner Person trennen. Dass ich zu einem verfrühten Zeitpunkt als Jude | |
nach Deutschland zurückgekommen bin – das hat dann irgendwann auf mich | |
zurückgeschlagen. | |
Aber nur auf Sie selber? Es hat Ihnen niemand zum Vorwurf gemacht? | |
Nein, ein Vorwurf nicht. Aber man wunderte sich. | |
Ihre Familie? | |
Die sowieso, damals schon. Aber ich hatte eine Freundin in Berlin, und wir | |
saßen im Café Einstein. Mitte der Achtzigerjahre. Eine Engländerin war das, | |
und sie fragte mich, warum ich eigentlich nach Deutschland zurückgekehrt | |
sei, und da merkte ich, dass ich jetzt aus der Distanz darauf keine gute | |
Antwort geben kann. Das war mit ein Grund, warum ich 1992 Deutschland | |
verlassen habe und nach Südamerika gegangen bin. | |
Kann man eine Entscheidung fast fünfzig Jahre später korrigieren? | |
Es war irrational. Wahrscheinlich war es eine Aggression gegen mich selbst, | |
die ich nach außen gerichtet habe. Plötzlich hatte ich diesen | |
Deutschlandhass, ich wollte es ungeschehen machen. | |
1999 sind Sie dann ein zweites Mal nach Deutschland zurückgekehrt. Wie | |
fühlen Sie sich jetzt? Normal? | |
Ich bin nach Tübingen nur gekommen wegen der Bibliotheken – und die werde | |
ich auch vermissen, wenn ich jetzt erneut nach Südamerika gehe. | |
1968 waren Sie Dekan in Heidelberg. Wie haben Sie Deutschland damals | |
erlebt? | |
Die Studentenbewegung hat dazu geführt, mich mit Deutschland zu versöhnen. | |
In den ersten Jahren habe ich mich immer als Ausländer gefühlt. Aber mit | |
den Studentenprotesten habe ich mich voll identifiziert. Ich war | |
abgeschreckt von der merkwürdigen Reaktion eines Großteils der Kollegen. | |
Die wollten nicht aus ihrer Ruhe gebracht werden. Trotzdem war es ein ganz | |
erstaunliches Erlebnis für mich. Man hat mich als normalen Menschen | |
behandelt! Wir Professoren haben uns einfach gestritten. Meine Kollegen | |
verhielten sich weder antisemitisch noch philosemitisch. Ich verstehe das | |
bis heute nicht. Das waren alles Leute, die die Nazizeit miterlebt hatten. | |
Wie war es später? | |
Persönlich habe ich keinen Antisemitismus erlebt. Aber das ist keine | |
objektive Aussage, denn es kann Zufall sein. Eher erlebe ich | |
Philosemitismus, wenn mir zum Beispiel Deutsche sagen, sie könnten nicht | |
die gleiche Kritik an Israel äußern, wie ich es tue, wenn ich etwa den | |
Zionismus als nationalistisch beschreibe. Das würden sich viele Deutsche | |
nicht trauen. | |
Noch mal zurück zu Heidegger: Wie sehen Sie ihn jetzt? | |
Der C. H. Beck Verlag hat mir nahegelegt, ein Buch über „Sein und Zeit“ zu | |
schreiben. Aber das täte ihm zu viel Ehre an. Nicht nur die Art, wie er | |
sich in der Nazizeit verhalten hat, sondern auch, wie er sich geäußert hat | |
nach 1945 – schrecklich. Ich glaube, dass er etwas Verlogenes hatte. | |
Menschlich-politisch allemal, aber auch im Philosophischen. | |
Sie werden ja immer mit der Erkenntnis zitiert, das Problem bei Heidegger | |
sei, dass es keinen Begriff von Unwahrheit mehr gibt. | |
Er hat einen Wahrheitsbegriff entwickelt, den Begriff der | |
„Unverborgenheit“, zu dem der Gegensatz der Falschheit nicht mehr | |
wesentlich gehöre. Es ist relativ kompliziert bei ihm. Er hatte immer | |
Möglichkeiten, sich da herauszureden. Aber grundsätzlich ging die kritische | |
Dimension bei ihm verloren. | |
Trotzdem sind auch Sie letztlich ein Leben lang fasziniert gewesen. | |
Ein Leben lang nicht. Für mich war der Wendepunkt, als ich kurz vor der | |
Habilitation über Husserl und Heidegger 1965 eine Einladung nach Ann Arbor | |
in Michigan hatte, da war ich 35. Dort habe ich gesehen, dass man mit der | |
analytischen Philosophie Dinge leichter klären kann, zu denen Husserl | |
irgendwelche Erfindungen wie „kategoriale Anschauung“ gemacht hat. Das war | |
für mich ein sehr großer methodischer Einbruch. Ich habe an Fragestellungen | |
von Heidegger festgehalten, aber ich war nicht mehr fasziniert. Heidegger | |
hat ja versucht, seine metaphysischen Begriffe auf Aristoteles anzuwenden. | |
Dagegen wollte ich zeigen, dass Aristoteles eigentlich schon auf eine | |
sprachanalytische Philosophie zusteuert. | |
Wenn Sie sich 1999 der Anthropologie zuwandten – aus Distanz zu Heidegger | |
–, dann zeigt es doch noch immer, wie prägend er für Sie war. | |
Ich bin mir dessen bewusst. In einer Vorlesung hier in Tübingen habe ich | |
kürzlich versucht aufzudröseln: Was von Heidegger ist haltbar? Und ständig | |
musste ich den Leuten sagen, dass man es so nicht machen kann. Deswegen | |
kann ich auch kein Buch über „Sein und Zeit“ schreiben. | |
Weil es zu destruktiv wäre? | |
Ja. Wenn man einen Kommentar zu einem Buch schreibt, muss man ein primär | |
positives Verhältnis dazu haben. | |
Da kann man nicht schreiben, dass Heidegger letztlich nur das „Om“ | |
indischer Mystiker zu bieten hätte, wie Sie es in Ihrem letzten Buch tun. | |
Gelegentlich wird Ihnen vorgeworfen, dass Sie in Ihrer Kritik geradezu | |
polemisch sind. | |
Es fällt mir viel leichter, zu kritisieren, als zu würdigen. Jürgen | |
Habermas hat mir einmal gesagt: „Du kritisierst nicht einfach, du versuchst | |
zu töten.“ | |
Viele ihrer Studenten und Assistenten können von einem „Tugendhat-Trauma“ | |
berichten. Legendär ist Ihr Satz: „Das verstehe ich nicht“, wenn jemand ein | |
Referat gehalten hat. | |
Es war einfach so, das war keine strategische Absicht. | |
Das machte es ja so tödlich. | |
Das habe ich vielleicht von meiner Mutter. Sie war auch so naiv. | |
Sie haben ja sehr viele Schüler gehabt, die jetzt selbst Professoren sind. | |
Haben Sie das Gefühl, dass Sie eine Art Schule hinterlassen? | |
Nein. Ich habe meine Funktion als deutscher Professor lange so gesehen, | |
dass ich hier gegenüber den deutschen Tiefsinnigkeiten für Klarheit zu | |
sorgen habe. Und ich glaube, wenn ich irgendetwas bewirkt habe, dann war es | |
mehr, dieses methodische Bewusstsein zu entwickeln. Aber es gibt kaum | |
Leute, die an den gleichen Inhalten arbeiten. | |
Hätten Sie denn gern eine Schule gegründet? | |
Nein, das lag mir völlig fern. | |
Weil Sie Gewissheiten ablehnen? | |
Ich lehne Gewissheiten ab?! | |
Sie nennen es „Retraktionen“. Ständig korrigieren Sie in den neuen | |
Aufsätzen Ihre alten Publikationen. | |
Ja, in der Moralphilosophie ist mir das sehr häufig passiert. Da bin ich | |
immer wieder versumpft. | |
Für einen Leser wirkt es so, als müssten Sie einen Aufsatz erst | |
publizieren, um dann weiterdenken und ihn verwerfen zu können. | |
Nein! So denkt man sich das doch nicht. Nur manchmal habe ich Sachen | |
veröffentlicht, wo ich schon vorher wusste, das stimmt nicht so ganz, aber | |
das ist egal, sollen sich andere Leute die Zähne dran ausbeißen. | |
Also eine Art Arbeitsteilung? | |
Aber faktisch tut das kein Mensch. Ich habe nicht das Gefühl, dass sehr | |
viele Gedanken von mir aufgenommen worden sind. | |
Haben Sie den Eindruck, dass Sie vielleicht das falsche Thema bearbeiten? | |
Nein, das habe ich eigentlich nie. Bei manchen Themen glaube ich, dass es | |
wichtige Themen sind, und bei anderen glaube ich, so wie ich gebaut bin, | |
kann ich nur darüber etwas sagen. | |
Wie sind Sie denn gebaut? | |
Ich bin gewissermaßen ein sehr kurzsichtiger Mensch. Ich bin nicht jemand, | |
der den großen Überblick über gesellschaftliche Zusammenhänge hat. Ich kann | |
immer nur so meine kleinen Problemchen weiterführen. Dafür habe ich einen | |
Vorteil, den die anderen nicht haben, dass ich präzise arbeite. Ich kann zu | |
gesellschaftlich relevanten Sachen eigentlich gar nichts sagen, weil das | |
sofort viel zu komplex für mich ist. Ich spreche nur über Dinge, die man in | |
seinem individuellen Selbstverständnis hat. Daran habe ich lange gelitten, | |
dass ich nicht empirisch arbeiten kann. Ich bin damals von der Uni | |
weggegangen, von Heidelberg, um es zu lernen. | |
Was ist für Sie empirisch arbeiten? Wollten Sie etwa Soziologie machen? | |
Soziologie und Geschichte. Aber das Ganze war eine unsinnige Idee. Ich | |
hatte dann nur das Glück, dass mir das Angebot von Habermas gemacht wurde, | |
an dieses Institut in Starnberg zu gehen. Wenn ich wirklich ohne Netz | |
gearbeitet hätte einige Jahre, wäre mir das schlecht bekommen. Aber ich | |
wollte lernen, empirisch zu arbeiten. Das habe ich inzwischen aufgegeben. | |
Ich mache jetzt Sachen, von denen ich weiß, ich kann das, und lasse Sachen, | |
die ich nicht kann, einfach weg. | |
Trotzdem haben Sie sich zum Beispiel zum ersten Golfkrieg geäußert. | |
Das waren wahrscheinlich immer Fragen, die man relativ leicht eingrenzen | |
konnte. Ich habe ja auch Vorträge über die Atomkriegsgefahr gehalten. Aber | |
da ging ich damals auch mit Furcht und Zittern dran bei dem ersten dieser | |
Vorträge. | |
Selbst Gegner räumten damals ein, dass Sie vielleicht nicht immer auf der | |
richtigen Seite waren – aber auf jeden Fall die besten Argumente hatten. | |
Trotzdem habe ich mich in den Achtzigerjahren verzettelt. Damals in Berlin | |
habe ich nur noch zwei- oder dreimal eine sinnvolle Vorlesung gehalten – | |
aber nicht mehr viele. | |
Welche Funktion hat die Philosophie überhaupt noch? Wird sie überflüssig – | |
durch die Verhaltensforschung, die Hirnforschung und die | |
Evolutionsbiologie? | |
Da bin ich sehr zurückhaltend. Was die Verhaltensforschung betrifft, so | |
finde ich, dass viel zu schnell Analogien gesucht werden – wie zwischen | |
menschlicher Moral und tierischem Altruismus. Das hat etwa Konrad Lorenz | |
gemacht. Bei der Hirnforschung finde ich ziemlich verrückt, was da heute | |
läuft. | |
Warum? | |
Man kann lediglich feststellen, in welchen Bereichen des Gehirns welche | |
Typen von Prozessen ablaufen. Aber dann kommen diese Professoren der | |
Gehirnphysiologie und stellen Theorien über die Nichtexistenz menschlicher | |
Freiheit auf, die sich nur darauf stützen, dass sie sagen, wir sind | |
Wissenschaftler und glauben an den Determinismus. Sie nehmen die | |
philosophische Literatur der ganzen letzten Jahrzehnte überhaupt nicht | |
wahr, in der versucht wird, Determinismus und Willensfreiheit nicht als | |
Gegensatz zu sehen. Das halte ich für eine völlig haltlose Spekulation. | |
Aber die Hirnforschung steht doch erst am Anfang. | |
In hundert Jahren kann die Hirnphysiologie vielleicht interessant werden | |
für die Philosophie, aber bisher ist sie es nicht. Ich bin freilich ein | |
Naturalist, ich sehe den Menschen als einen Teil der biologischen | |
Entwicklung. Aber was in den biologischen Wissenschaften mit Bezug auf den | |
Menschen gemacht wird, da ist sehr wenig Sinnvolles. | |
Wenn die Hirnforschung so wenig zu bieten hat – gibt es denn gesichertes | |
philosophisches Wissen? | |
Nein. Man braucht es aber auch nicht. Der Wunsch, auf gesichertem Boden zu | |
stehen, ist das Überbleibsel eines autoritären Bewusstseins. Es ist ein | |
Relikt jener Zeiten, als man glaubte, von den Göttern alles Wesentliche | |
durch Offenbarung zu erhalten. | |
ULRIKE HERRMANN, 43, hat Philosophie studiert und ist wirtschaftspolitische | |
Korrespondentin der taz | |
28 Jul 2007 | |
## AUTOREN | |
ULRIKE HERRMANN | |
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