# taz.de -- Der Klang der Glocke | |
> KUNST-TRIENNALE Im englischen Folkestone gelingt die Idee von Kunst im | |
> öffentlichen Raum | |
VON GABY HARTEL | |
Am letzten Abend ist es wirklich so wie auf dem Coverfoto des Katalogs. Man | |
steht auf einem einsamen Parkplatz im nächtlichen Nebel. Auf dem vernarbten | |
Asphalt schimmern milchig-gelbe Pfützen, in denen sich, wie Wunderkerzen, | |
die Straßenbeleuchtung spiegelt und so ein bisschen Sicht ins Dämmerlicht | |
trägt. Es ist ein atmosphärisches Foto und gleichzeitig ein grundehrliches. | |
Geradezu symbolisch für die Kunst-Triennale im englischen Folkestone, die | |
in diesem Sommer zum zweiten Mal stattfindet. Denn Folkestone hat | |
ökonomische Probleme, bekämpft sie aber – im Gegensatz zu anderen Seeorten | |
– nicht mit attraktivem Ramsch und Rummel an den Piers, sondern mit | |
hochrangiger zeitgenössischer Kunst. | |
Die kluge Idee stammt von der Kuratorin Andrea Schlieker, die den | |
Folkestoner Geschäftsmann Roger De Haan als Förderer der Triennale gewinnen | |
konnte. Die Rechnung scheint aufzugehen. Von London aus ist man in einer | |
knappen Stunde hier, und so strömen die Triennale-Besucher in Scharen | |
hierher, um mit dem Kunststadtplan vor der Nase die Arbeiten aufzuspüren. | |
Die Mehrzahl der Künstler ist international bekannt: Charles Avery, Martin | |
Creed, A K Dolven, Smadar Dreyfuss, Hala Elkoussy, Spencer Finch, Hamish | |
Fulton, Cristina Iglesias, Paloma Varga Weisz und viele mehr. | |
Mit den insgesamt 19 Auftragsarbeiten, die in der Stadt und entlang der | |
Küstenpromenade verteilt sind, ist Andrea Schlieker eine einzigartige | |
Präsentation von Kunst im öffentlichen Raum gelungen. Und zwar in der Art, | |
wie sie in Konzepten und Katalogtexten zwar oft beschworen, aber nur selten | |
realisiert wird: Die Werke betten sich bemerkenswert sensibel ein in die | |
historische, soziale oder geistige Architektur der Stadt sowie in ihre | |
Psychogeografie. Schlagworte des Kulturbetriebs wie „ortsspezifische“ und | |
„partizipatorische Kunst“ sind hier überzeugend ins Leben überführt: So | |
treten viele der Arbeiten in einen Dialog mit dem Stadtbild, das sich peu à | |
peu in einen Kunstpark verwandeln wird, da nach jeder Triennale einige | |
Werke angekauft werden. | |
## Die Bürger als Kunstführer | |
Auch die Folkestoner Bürger sind in das Event eingebunden: als Kunstführer, | |
Mitwirkende oder Hausherren. Und natürlich als Besucher: So will eine Dame, | |
die schwer bepackt vom Einkaufen kommt, mir unbedingt erzählen, warum ihr | |
die Arbeit „Out of Tune“ von A K Dolven so gut gefällt: Eine fast 500 Jahre | |
alte, ausgemusterte Glocke hängt da in 20 Metern Höhe am Strand zwischen | |
zwei rostroten Stahlträgern. Das Werk ist gleichzeitig sehr einfach und | |
vielschichtig, fragil und bestimmt und liegt als Genre zwischen Skulptur | |
und Performance, denn jeder kann sie läuten. Dieser Moment, wenn sich der | |
Klang der lange verstummten Glocke unter die Alltagsgeräusche mischt, | |
verschafft der Dame einen Augenblick der Ruhe. Sagt sie und stapft davon. | |
Auch andere Arbeiten werden von den Bewohnern mit Stolz und | |
Zugehörigkeitsgefühl angenommen. So berichtet die Blumenfrau neben der | |
Kirche amüsiert von ihrer Reaktion auf die zehn öffentlichen Uhren, die | |
Ruth Ewan nach dem Dezimalsystem gestellt hat. Sie sorgen für konstruktive | |
Verwirrung, wenn sie im Augenblick der Verblüffung einen Moment lang die | |
Zeit relativieren. Der Tag mit 10 Stunden wurde in der jungen Republik | |
Frankreich des 18. Jahrhunderts eingeführt und diese Regelung hielt sich | |
zwölf Jahre lang. Hätten die Engländer nicht – zur Abschreckung der | |
Franzosen – all die Wehrtürme entlang der Küste gebaut, vielleicht hätte | |
auch der englische Tag nun zehn Stunden. Doch diese Gefahr ist längst | |
Geschichte: Einer der Türme war völlig von Grünzeug überwuchert, bis | |
Cristina Iglesias ihn entdeckte. Sie ließ einen Pfad durchs Gestrüpp | |
schlagen, über den sie den Besucher in einen bronzefarbenen Hohlraum führt, | |
wo er dann mit Blick auf den versunkenen Turm in die Welt hineinhorchen | |
kann: „Towards the Sound of Wilderness“ heißt ihre Installation. | |
## Schönheit des Ärmelkanals | |
„For Those in Peril On the Sea“ ist auch so ein Favorit: An die hundert | |
Modellboote, handgeschnitzt und handbemalt, ließ Hew Locke ins | |
Kirchenschiff der Kirche hängen: So entstand eine mehrteilige | |
Votivskulptur, ein magisches Schutzschild für alle Seefahrer. Hier an der | |
Küste versteht man das gut: Etwa hundert Besucher kämen an Wochenenden | |
hierher, flüstert der Küster mir zu, und kann seinen Stolz hinterm | |
britischen Understatement nicht ganz verbergen. | |
Spencer Finch wiederum öffnet seinem Publikum die Augen für die | |
unterschätze Schönheit des Ärmelkanals: 100 verschiedene Farbtöne entdeckte | |
er hier, brachte sie in „The Colour of Water“ auf einer Drehscheibe mit | |
Guckloch an, auf der man jederzeit die eigene Wahrnehmung testen und auch | |
schärfen kann. | |
Das Motto der Triennale, „A Million Miles From Home“, etwa: „Lichtjahre | |
weit weg“, verweist nicht nur konkret auf das Thema der Migration (eine | |
kontroverse Arbeit hierzu: das Video-Tryptichon „Promised Land“ von Nikolaj | |
Bendix Larsen), das Motto schließt auch den Blick in die weiten Innenwelten | |
der Menschen von nebenan mit ein. | |
■ Bis 25. September, Folkstone, Großbritannien. Der Katalog kostet 29,95 | |
Euro | |
31 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
GABY HARTEL | |
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