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# taz.de -- Götter & Dämonen
> GENDER-GRENZGÄNGERIN Die weitgereiste Frau Ottinger
VON CLAUDIA LENSSEN
Reisende sollten Gaben mit sich führen, so sie auf gute Begegnungen in der
Fremde hoffen. Die Regisseurin, Fotografin und Kamerafrau Ulrike Ottinger
versetzt sich gern in die Welt der Grenzgänger, die über Wasser oder Land
aufbrachen, um andere Kulturen kennen zu lernen.
Das Prinzip des Austauschs, das Völker durch den Handel mit Waren und Ideen
zusammenführte, fasziniert sie. Und auch im Ritual der Opfergaben sieht sie
ausgleichenden Handel am Werk. „Man hat gewusst“, meint die weit Gereiste,
„dass man sich bei der Natur bedanken muss, dass man, egal ob in der Hand
von Göttern oder Dämonen, ausgeliefert ist.“ Gabe und Gegengabe, wie Ulrike
Ottinger es versteht, widersprechen dem gängigen Glauben, man könne alles
mit Versicherungen regeln. Diese Idee, so Ottinger, ziehe sich wie ein
roter Faden durch ihre künstlerischen Abenteuerreisen.
Ein Besuch bei Ulrike Ottinger ist der Eintritt in eine stille
konzentrierte Welt. Mit dem aufgedrehten Kiez in Berlin-Kreuzberg, wo sie
seit 1973 wohnt, scheint sie in lebendigem Widerspruch verbunden. Das
zylindrische Bunkergebäude, das sich in der Nähe erhebt, hat sie in den
siebziger Jahren in Berlin-Filmen wie „Freak Orlando“ als Schauplatz
benutzt. Jetzt steckt der bizarre Koloss voller schicker
Eigentumswohnungen.
Ottinger lebt mit Büchern, die von ihrer Liebe zum Reisen, zu fernen
Völkern, ihren Riten und Künsten erzählen und ihren großen Fundus an
ethnologischem, kunsthistorischem und mythengeschichtlichem Wissen
vertiefen. Eine wohl geordnete Garde exotischer Götter und Dämonen in Holz,
Stein und Erz behütet diese Bibliothek, sie bewacht auch die
eindrucksvollen Schränke und Kästen, in denen Ulrike Ottinger ihren
Bilderschatz aufbewahrt. Grafiken, Fotografien, Filmrollen und Zitate aus
Märchen, Mythen und Reisebeschreibungen kann sie jederzeit hervorholen und
zu neuem Leben erwecken.
## Ausschweifende Dauer
Ulrike Ottinger hat mehr als zwanzig Filme gedreht, seit sie nach Berlin
gezogen und mit der Malerin, Performerin und zeitweiligen Protagonistin
Tabea Blumenschein dieses Medium für sich eroberte. Dokumentarische
Reisefilme von ausschweifender Dauer finden sich in ihrem Werk,
beispielsweise „China. Die Künste – Der Alltag“, eine Erkundung des
kommunistischen Riesenreichs von 1985, oder „Südostpassage“, eine
mehrstündige Filmreise durch die Balkanstaaten bis Istanbul, gedreht in den
ersten Jahren nach der Auflösung des Eisernen Vorhangs.
„Madame X – Eine absolute Herrscherin“, eine frühe Spielfilm-Fantasie ü…
eine asiatische Piratenkönigin, hätte in China gedreht werden sollen, am
Ende befuhr ihre Dschunke aus Geldmangel den Bodensee. Die Filme Ottingers
entstanden mit kleinen Budgets, haben jedoch bislang erstaunlich wenig
Patina angesetzt.
Ihre Spielfilme bilden einen seltsam zeitlosen Kosmos, der von der
unverwechselbaren cineastischen Handschrift ihrer Kamera, von klaren
Farben, monumentalen Landschaften, expressionistisch anmutendem Personal
und märchenhaften Narrationen lebt. Die Welt der Gender-Grenzgängerinnen,
der Retro-Ikonen, zirzensischen Schauder-Attraktionen, kurz: der gewaltige
Resonanzraum des expressionistischen Stummfilms, der bildenden Künste und
der elaborierten Theaterformen ist ihre Inspirationsquelle. Das weite Feld
des internationalen Kulturaustauschs der letzten zwei Jahrhunderte, das
existenzielle Erfahrung jenseits von Eroberungsfeldzügen und
Kolonialkriegen ermöglichte, ist ihr Thema.
Ulrike Ottinger zeigt auf ihr Skizzenbuch, das den roten Faden durch ihr
aktuelles Großprojekt legt. „Floating Food“, ihre Ausstellung im Rahmen der
Asien-Pazifik-Wochen im Berliner Haus der Kulturen der Welt, soll
assoziativ die Fluss- und Meereswege nachziehen, auf denen Händler in
archaischen Zeiten den Austausch organisierten. So will sie eigene
Fotografien, Filmepisoden und Installationen mit historischen
Reiseschilderungen und Kultobjekten in Beziehung setzen, um die Bedeutung
der „Gabe“ zu feiern.
Dieses Element der traditionellen asiatischen Kunst, Götter, Dämonen und
irdische Gäste zu bewirten, hat sie in unzähligen Farbfotografien
dokumentiert und in ihren Filmen reinszeniert. Speisen, die roh oder
gekocht wie kleine Kunstwerke dargeboten als schwimmende Opfergaben auf
Teichen, Flüssen oder dem Meer freigesetzt werden, faszinieren die
Künstlerin. Jetzt gibt ihr die Ausstellung in Berlin Gelegenheit, ihr
Leitmotiv in Filmen, Fotografien, Installationen und mit der Präsentation
von Kultobjekten anschaulich zu machen.
## Expedition in die Mongolei
Drei große Kisten voller Dinge, die einer Nomadenfamilie nützlich sind,
nahm Ulrike Ottinger mit, als sie in den späten achtziger Jahren zu
Expeditionen in die Innere und Äußere Mongolei aufbrach. Gaben, nicht Geld,
ermöglichten ihre Filme „Johanna d’Arc of Mongolia“ und „Taiga“.
Nächtelang habe sie romantische Lieder, die sie von ihrer Mutter kannte,
zum Besten gegeben, die Mongolen antworteten mit ihrer Musik und so kam man
sich in kulturellen Missverständnissen näher. „Man muss unterhalten, man
wird unterhalten, und darum geht es“, sagt die Filmemacherin.
Die Faszination für Reiseabenteuer, die in historische Tiefen und andere
Kulte abtauchen, erfasste sie schon als Kind. Ottinger, Tochter eines
Kunstmalers und einer Übersetzerin, erlebte in der Kindheit in ihrer
Heimatstadt Konstanz den lebendigen Austausch mit den Künstlern und
Intellektuellen, die als französische Militärs nach dem zweiten Weltkrieg
in Süddeutschland stationiert waren und im offenen Elternhaus ein und aus
gingen.
1962, mit zwanzig Jahren, ging sie nach Paris und lernte die Gravüre- und
Siebdrucktechnik im legendären Atelier von Johnny Friedländer. Sie hörte
die Vorlesungen von Derrida, Bourdieu und Louis Althusser, tanzte die
Nächte durch und verkehrte im Kreis der deutschen Exilanten, die sich in
der antiquarischen Buchhandlung Calligrammes um Fritz Picard sammelten. Die
vollkommen unterschiedlichen Milieus der französischen Linken, der
Generation der Exilanten und der Cineasten in der Cinémathèque Française
waren das prägende Element ihrer ersten Jahre als Künstlerin, über das sie
gern einen autobiografischen Film drehen würde.
Damals entstanden großformatige Gemälde, die Ulrike Ottinger inzwischen
nach Berlin geholt hat, um sie in dem anderen großen Projekt dieses
Herbstes auszustellen, einer Ausstellung in der Neuen Gesellschaft Berliner
Künstler im Rahmen der Verleihung des Hanna-Höch-Preises im November.
Ihre Arbeit, spielerisch zu assoziieren und ungewöhnliche Dinge zu
kombinieren, so dass plötzlich Geschichten entstehen, sieht Ulrike Ottinger
als innere Verbindung zu ihren künstlerischen Ahnen. „Wenn es helfen würde,
die Welt so zu zeigen, wie sie ist, dann sähe sie anders aus“, begründet
sie ihre Ablehnung planer psychologischer Alltagsdramaturgien. Sucht sie
die Wunder, den magischen Zauber ihrer Bildfindungen, weil sie die
Wirklichkeit transzendieren? „Nein“, antwortet Ulrike Ottinger, „mich
interessiert, wie wir denken, wie die Synapsen angeregt werden, wie ich den
Bilderfundus in meinem Gehirn, den ich nicht immer kontrolliere, assoziativ
unterstreichen und inszenieren kann. Das ist ein sehr realer
Arbeitsprozess, der Bilder für andere deutlich machen soll. So funktioniert
das, was ich mache!“
3 Sep 2011
## AUTOREN
CLAUDIA LENSSEN
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