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# taz.de -- Zumutungen des Erinnerns
> ASIENFESTIVAL Das Stück „Memory“ der chinesischen Tanzkompanie Living
> Dance Studio im HAU reflektiert das Gedenken an die Kulturrevolution und
> die Schwierigkeit, jenseits von Ideologie zu gelangen
Auf der Bühne wird ein Kasten aus Gaze angestrahlt, deren unregelmäßige
Struktur an Papyrus erinnert. Im Kasten sitzt eine junge Frau mit langen,
dicken Zöpfen an einer Nähmaschine. Auf den Kasten werden zuerst auf
Deutsch und Chinesisch die Worte „Gedächtnis“, dann „Erinnern“ und
schließlich, mehrmals hintereinander „Versuchen, sich zu erinnern“
projiziert. Erste Assoziation: eine Projektionsfläche, die ihren Zweck nur
mangelhaft erfüllt, denn sie ist zu durchscheinend.
Der Kasten ist das Bühnenbild zum Tanzstück „Memory“, das vom HAU für das
Festival „Leaving The Comfort Zone“ eingeladen wurde, einem Festival, bei
dem es darum geht, Zuschreibungen zu hinterfragen, historische
Selbstverständlichkeiten auf den Kopf zu stellen, einen ironischen Umgang
mit der Exotik zu suchen. „Memory“ stammt vom 1994 gegründeten Pekinger
Living Dance Studio der Choreographin Wen Hui und des
Dokumentarfilmemachers Wu Wenguang, einer der wenigen experimentellen
Tanzkompanien Chinas. Wen Hui und Wu Wenguang ermöglichten etwa
Wanderarbeitern, sich in einer alten, zum Abriss freigegebenen Textilfabrik
selbst zu inszenieren („Dance with Migrant Workers“). Dabei versuchen sie
stets Annäherungen an China „unterhalb“ der großen Politik, aus der
Perspektive des Alltags, des privaten Lebens, individueller
Selbstbehauptung und Glückssuche.
In „Memory“ geht es nun um Erinnerungskultur – eine Disziplin, für die es
im Chinesischen keinen Begriff gibt, denn noch immer entscheidet die
Partei, was und wessen in welcher Hinsicht gedacht werden darf. Die
Tanztruppe hat sich die Kulturrevolution 1966 bis 1976 vorgenommen, als Wen
Hui, Protagonistin und Gegenstand dieses Stücks zugleich, noch ein Kind
war. Dies ist insofern interessant, da an die Kulturrevolution als eine der
wenigen Katastrophen in der chinesischen Geschichten heute sehr wohl
offiziell erinnert werden darf. Vor allem, weil damals alle irgendwie
gleichzeitig Täter und Opfer waren und es leicht fällt, außer Mao keine
Schuldigen auszumachen.
Die Aussage von „Memory“: Es ist wahr, dass an die Kulturrevolution gedacht
wird, allerdings ist das Gedenken längst zu Formeln erstarrt. Auf der
erwähnten Gaze ist ein Wecker zu sehen, bei dem der Arm einer jungen,
revolutionären Kämpferin aus der Zeit der Kulturrevolution als Zeiger
dient. Devotionalien wie diese kann man heute an allen Sehenswürdigkeiten
Pekings erstehen – vergleichbar mit den russischen Pelzmützen, wie sie am
Checkpoint Charlie verkauft werden. Es folgen Parolen und Propagandabilder
von damals, Archivbilder von Wen Hui als kleines Mädchen, wie sie zu den
Jungen Pionieren kam, wie sie zur revolutionären Tanztruppe kam, wie „Das
Mädchen mit den weißen Haaren“ tanzte, der wohl berühmtesten
kulturrevolutionären Modelloper. Im Kasten fällt plötzlich auf, dass eine
weitere Frau hinzugekommen ist. Es ist Wen Hui. Nach einer Weile bemerkt
man, dass sich Wen Hui zur akustischen Simulation einer Meeresbrise
wiederholt nach hinten beugt, als würde sie von unsichtbaren Haken an der
Brust an die Decke gezogen.
Nach einer Weile spricht die junge Frau an der Nähmaschine die ältere Wen
Hui mit „Tante“ an – so wie es sich gehört in China. Sie will wissen, wie
das war mit der Kulturrevolution. Was hieß Selbstkritik? Die entscheidende
Antwort ist: „Ich versuche, mich an meinen Körper zu erinnern, als ich ein
Kind war.“ Inzwischen hat Wen Hui allmählich den Kasten aus Gaze
durchschritten und ist vors Publikum getreten. Sie beugt sich weiterhin
nach hinten – individuelle Erinnerungen, die Suche nach Impressionen
jenseits von Ideologie und offizieller Aufarbeitung, sind eine physische
Zumutung. Die junge Frau hat ihren Nähmaschinentisch einmal um den
Gazekasten herumgeschoben und begonnen, sich gründlich zu waschen. Sie ruht
ganz im Hier und Jetzt. Diese körperliche Intensität, die vor aller
Interpretation, vor allen Formeln und Hülsen liegt, ist Wen Hui offenbar
verloren gegangen. SUSANNE MESSMER
■ Heute im HAU 1. „Leaving the Comfort Zone“, bis 12. September
10 Sep 2011
## AUTOREN
SUSANNE MESSMER
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