| # taz.de -- Reise an die Gründe des Schweigens | |
| > ERINNERUNG IM KINO Vor 70 Jahren wurde das Konzentrations- und | |
| > Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit. Anlass für das Berliner | |
| > Kino Arsenal, Experimental- und Dokumentarfilme zu präsentieren, die sich | |
| > mit dem Holocaust auseinandersetzen | |
| VON MATTHIAS DELL | |
| „Ich wusste, dass das jetzt kommt“, sagt die junge Frau, dabei hatte sie | |
| sich „das“ doch verbeten – Fragen zu den „negativen“ Seiten der Naziz… | |
| Die junge Frau ist Sylvia Fabritius, sie macht in Berchtesgaden am Fuße von | |
| Hitlers Obersalzberg Geschäfte mit Andenken, die sie notfalls im eigenen | |
| Verlag herstellt: eine „Biographie des Dritten Reichs“, in der Fotos | |
| Idyllen beschwören. Hitler weder als brüllender Antisemit noch als | |
| aufpeitschender Kriegstreiber, sondern als freundlicher Führer unter | |
| Kindern und anderem Volk, wobei das liebste Bild von Sylvia Fabritius das | |
| ist, auf dem Hitler Zeitung liest. | |
| Sylvia Fabritius ist eine groteske Gestalt, ein sich naiv stellendes | |
| Mädchen, das die Nazizeit als Groschenroman fühlen will (Aspekte der Liebe | |
| zwischen Hitler und Eva Braun beschäftigen sie sehr). Alles andere | |
| verdrängt sie mit einer faulen Lüge: „Ich weiß zu wenig.“ Denn es geht b… | |
| der Erinnerung an den Holocaust um das Wissenwollen, um Ignoranz versus | |
| Bewusstsein. „Ich wusste, dass das jetzt kommt“ ist daher der klügere | |
| Fabritius-Satz, weil damit die Schwelle markiert ist, auf der die | |
| nachgeborene Verantwortung absichtsvoll kehrt macht, um sich zu entziehen. | |
| Sylvia Fabritius kann man in dem Film „Dark Lullabies“ begegnen, den Irene | |
| Lilienheim Angelico gemeinsam mit Abbey Jack Neidik 1985 gedreht hat. Er | |
| läuft in einem Filmprogramm des Berliner Arsenal, das ab heute eine Woche | |
| lang gezeigt wird: aus Anlass des 27. Januar, an dem sich in diesem Jahr | |
| die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 70. Mal jährt. Seit | |
| 1996 wird an diesem Datum in Deutschland der Opfer des Nationalsozialismus | |
| gedacht, 2005 haben es die Vereinten Nationen zum Internationalen Tag des | |
| Gedenkens an die Opfer des Holocaust erklärt. Man kann daran erkennen, wie | |
| lange die Auseinandersetzung mit der Geschichte braucht, um Formen für | |
| Erinnerung anzunehmen. | |
| Um die Erinnerung wachzuhalten, hat das Arsenal ein Archiv angelegt, aus | |
| dem das Filmprogramm nun eine Auswahl zeigt und das für den Einsatz in | |
| Schulen und bei Sondervorführungen gedacht ist. Unter dem Titel „Asynchron“ | |
| wurden bislang 46 Dokumentar- und Experimentalfilme gesammelt, kanonische | |
| Werke wie „Shoah“ und „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ von Claude | |
| Lanzmann und Alain Resnais’ frühen Lagerfilm „Nacht und Nebel“ von 1955. | |
| Daneben gibt es unbekanntere Essays wie eben „Dark Lullabies“, worin die in | |
| München geborene und in Kanada aufgewachsene Irene Lilienheim Angelico ihre | |
| eigene Geschichte erzählt – als Reise an die Gründe des Schweigens ihrer | |
| Eltern, die den Holocaust überlebt haben im KZ Dachau. Der Ort bildet die | |
| Klammer des Films, am Anfang sind die schwarz-weißen Bilder von den | |
| ausgemergelten Gestalten unterlegt mit Brahms „Wiegenlied“ („Guten Abend, | |
| gut‘ Nacht“), das Kindern vorgesungen wird. In der Montage von „Dark | |
| Lullabies“ steckt in dem romantisch-schaurigen Text („Morgen früh, wenn | |
| Gott will, wirst du wieder geweckt“) die Ahnung vom Tod im Zustand des | |
| Nichtwissens, den Kindheit meint. | |
| „Dark Lullabies“ ist ein poröser Film, was ihn exemplarisch macht für die | |
| „Asynchron“-Auswahl. Auch in einem 2003 entstandenem Film wie „Mein Leben | |
| Teil 2“, in dem die Experimentalfilmemacherin Angelika Levi das Leben und | |
| Leiden ihrer Mutter dokumentiert, die als Jüdin den Holocaust überlebte und | |
| danach psychisch krank wurde, wehrt sich der Einsatz des heterogenen | |
| Materials (Tonaufnahmen und Bilddokumente, die Super-8-Filme aus der | |
| Familie) gegen die einseitig durcharrangierte Zeitgeschichtsverklappung, in | |
| der Guido Knopps Schaffen beim ZDF kulminierte und in der ein Großteil des | |
| deutschen Geschichtskinos der letzten Jahre seine Faszination für geputzte | |
| Stiefel und schnieke Uniformen auszuagieren versucht. „Mein Leben Teil 2“ | |
| führt schon deshalb hinter solche glatten Projektionen, weil Angelika Levi | |
| noch auf Film gedreht hat, was ihren Film für das an digitale Schärfe | |
| gewöhnte Auge irritierend fern erscheinen lässt. | |
| Das „Asynchron“-Programm bildet mit seinen Filmen über die Geschichte des | |
| Holocausts selbst schon Geschichte ab im Umgang mit diesen. Man sieht das | |
| an der Schnörkellosigkeit, mit der Erwin Leiser in „Die Feuerprobe“ von | |
| 1988 in seine Oral History vom 9. November 1938 einführt, die lange als | |
| (Reichs-)Kristallnacht firmierte: „Zutreffender ist das Wort Pogrom.“ Es | |
| geht um Grundlagen, nicht um dramatisierende Verkleidung, „Die Feuerprobe“ | |
| will Zeugnis ablegen („Ich heiße Erwin Leiser und habe diesen Film | |
| gemacht“) von einem Ereignis, das die Nazis wohlweislich nicht durch | |
| Bildaufnahmen dokumentiert sehen wollten. | |
| Man merkt die Distanz zu heute, die den Blick auf die Erinnerung belebt, | |
| auch an den deutschen Gesprächspartnern, die Irene Lilienheim Angelico in | |
| „Dark Lullabies“ aufgesucht hat – neben lächerlichen Neonazis vergessene | |
| Protagonisten der NS-Auseinandersetzung, etwa der Regisseur Harald Lüders, | |
| der 1981 für eine Dokumentation („Jetzt – Nach so vielen Jahren“) im | |
| hessischen Dorf Rhina nach den 1939 verschwundenen jüdischen Einwohnern | |
| fragte, oder der Schriftsteller Sigfrid Gauch, der Ende der siebziger Jahre | |
| eines der ersten Bücher über Nazi-Väter vorlegte (über den NS-Mediziner | |
| Hermann Gauch). Lüders sagt am Ende des Films, die Kinder der Überlebenden | |
| fänden zueinander, je weiter sie sich in die Geschichte hineinbegeben, in | |
| Deutschland würde das Fragestellen dagegen zur Trennung führen. So kann man | |
| Sylvia Fabritius auch erklären. | |
| 27 Jan 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| MATTHIAS DELL | |
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