# taz.de -- Auslauf aus der Kunst | |
> PORTRÄT Ein Besuch im Wohnatelier des Künstlers und Filmemachers Jürgen | |
> Böttcher. Es ging abenteuerlich zu | |
VON MATTHIAS DELL | |
In medias res ist schon falsch. Klingt so geordnet. Es geht aber gleich ab, | |
durchgedrücktes Gaspedal vom Start weg, direkt hinein in die Geschichten, | |
die das Leben von Jürgen Böttcher umgeben. China, 16. Jahrhundert, Tauchen, | |
Singapur, Kunst, Porzellan, Technik. An der Kanne Tee entzündet sich die | |
erste Erzählung. Es geht abenteuerlich zu, trägt einen fast aus der Kurve. | |
Also zurück auf Start. Hier ist mein Platz, sagt Böttcher, dort der Sessel | |
für den Fotografen, daneben der für den Frager – der Platz, von dem | |
normalerweise der Maler Strawalde, wie sich Böttcher nennt, wenn er nicht | |
filmt, sondern zeichnet, auf seine im Entstehen begriffenen Werke blickt. | |
Auf dem Tisch der Tee, das Gebäck, Portwein und Whiskey könnte es später | |
geben, und dann mal sehen, wer zuerst zum Klo muss. | |
Auf der Berlinale wird in diesem Jahr eine restaurierte, digitalisierte | |
Fassung gezeigt von Jürgen Böttchers Film „Jahrgang 45“. In der Reihe | |
„Berlinale Classics“, dem All-Star-Bereich, dem Kanon, den sich das größte | |
deutsche Filmfestival pflegt. Wer dort läuft, gehört dazu und wird es immer | |
tun, Auszeichnung, Respektsbekundung. | |
„Jahrgang 45“ ist der einzige Spielfilm des Dokumentarfilmemachers | |
Böttchers. Mitte der sechziger Jahre gedreht, nicht fertiggestellt, schon | |
die Rohfassung wurde verboten. Das mit dem Unfertigen merkt man dem Film | |
noch an, „Jahrgang 45“ war ein Arbeitstitel (das Buch stammte von Klaus | |
Poche); hätte der Film fertig werden dürfen, wäre es nicht dabei geblieben, | |
sagt Böttcher. | |
Tatsächlich ist der Name irreführend, wenn man mit 1945 Mühsal und Leid am | |
Ende des Krieges verbindet. Für Al (Rolf Römer) und Li (Monika Hildebrand) | |
ist es eine Befreiung: Böttcher zeigt Leute Anfang zwanzig, die vom Leben | |
nicht genug kriegen können, deshalb müssen sie rausgehen, durch Berlin. | |
Eine Bewegung, die Böttcher mit seinem Kameramann Roland Gräf | |
nachvollzieht: „Jahrgang 45“ im schönen, klaren Schwarzweiß kann mit | |
Drehorten, die Atelier heißen, nichts anfangen. Der Film braucht Auslauf | |
aus der Kunst, Neue Welle sagte man anderswo, Aufbruch war überall, in | |
Polen, in der Tschechoslowakei. | |
## Laien aus dem Leben | |
„Jahrgang 45“ ist aufreizend in den Posen der Lässigkeit, die sein Personal | |
ausprobiert, in der Verschwendung ans Dokumentarische, die er sich leistet: | |
Die Kamera folgt den tagträumenden Streunenden aus einer Ferne, aus der | |
kein Ton mehr geangelt werden kann, um die Hauptdarsteller herum sind Laien | |
aus dem richtigen Leben; Böttchers Nachbar aus dem Hinterhof in Prenzlauer | |
Berg etwa. Die Geschichte ist nicht so wichtig: Al und Li trennen sich, | |
damit sie wieder zueinander finden können. Es gibt zu viele Möglichkeiten, | |
man könnte dieses tun oder sich in jene verlieben. Würde Al im Westen | |
wohnen, spielte ihn Werner Enke, und statt innig-nölend zu berlinern | |
(„Haste, haste, haste – es geht um das, was ich nicht habe“), wäre er ein | |
Münchner Spaßvogel, der sich seine Sorgen aussuchen will. | |
„Wollen wir jetzt über den Film reden“, sagt Böttcher immer wieder, wenn … | |
in einer seiner Geschichten davongerast ist. Dabei liegt es natürlich an | |
ihm, dass es dazu kaum kommt. Wenn er eine Pause braucht, atmet er in einem | |
sympathischen Lachen aus, aber die meiste Zeit springt er von einer Ellipse | |
zur nächsten Assoziation, von Anekdoten über Witze zu Namen – Chris Marker, | |
Joris Ivens, Picasso. Man kommt sich, beim Versuch, das Gespräch zu formen, | |
wie ein lahmer Verkehrspolizist vor, der an jedem Abzweig die Ampel zu spät | |
auf Nachfrage stellt, weil Böttcher immer schon durchgebrettert ist. Es hat | |
etwas Getriebenes, wie er den Ozean an Erzählung durchmisst, der sich | |
auftut an diesem Nachmittag in Berlin-Karlshorst, auf der großzügigen | |
zweiten Etage eines zurückgesetzten Hauses, in dem die Grenzen zwischen | |
Wohnung, Atelier und Bilderlager nicht klar zu ziehen sind und alles doch | |
auf wundersame Weise arrangiert wirkt. | |
Und weil es was Getriebenes hat, ist es vielleicht nicht unbedingt kokett, | |
wenn Böttcher nicht so richtig reinwill in das Erzählenmüssen, die | |
Erinnerung: „Man teilt sich mit und will es nicht mehr.“ Der Widerwille | |
kommt auch daher, dass, was heute Erfolg ist, lange Zeit wie Niederlage | |
aussah: 25 Jahre lang war „Jahrgang 45“ nicht zu sehen, und als der Film | |
ins Kino kam, war er das Museum seiner Entstehungszeit, nicht die Gegenwart | |
des Jahres 1990. Es gehört zu den Ironien, dass die seinerzeit verbotenen | |
Filme, die heute emblematisch für die DDR stehen, also „Jahrgang 45“, „S… | |
der Steine“, „Karla“, „Das Kaninchen bin ich“ und so weiter, von dies… | |
nie geguckt wurden. | |
„Ich werde im Juli 84 Jahre alt, damals war ich 35“, sagt Böttcher über d… | |
Zeit, an die er sich nicht gern erinnert, weil die Schmerzen und die | |
Beleidigungen hochkommen. Als Maler war er nicht wohl gelitten, und vor | |
„Jahrgang 45“ sind schon zwei seiner Filme verboten worden: „Drei von | |
vielen“ über seine Malerfreunde von der Dresdner Hochschule für Bildende | |
Künste, und „Barfuß und ohne Hut“, ein verliebtes Sommerstück, Mädchen … | |
Jungen am Strand der Ostsee – als wäre die das Mittelmeer. | |
## Offene Disziplinierung | |
Klingt von heute aus: fern. Dass man keine Filme machen darf. In unseren | |
Tagen rutscht sich das so raus aus den Förderrunden, damals war es | |
Aussperrung, offene Disziplinierung, aber dass man die Namen alle elend | |
lang erklären müsste, die damals Macht hatten, um zu unterdrücken, was | |
ihnen nicht ins Bild passte, zu dekadent, leicht, westlich erschien | |
(„Barfuß und ohne Hut“ wurde, hat Böttcher erzählt, hinter seinem Rücken | |
nach Frankreich auf ein Festival geschickt zum Angeben, wie modern die DDR | |
doch aussehe), das tröstet Böttcher nicht recht. | |
Was noch fern klingt: das Davor, Aufwachsen unter den Nazis, das Überleben | |
im Krieg; der geliebte große Bruder hat das nicht, davon handelt Strawaldes | |
Bild „Beweinung“. Die Andeutungen, die Böttcher von seiner Jugend macht | |
(Kräfteverhältnisse auf den wechselnden Dörfern, die Not, weil der Vater | |
seine Arbeit im Schuldienst verloren hatte, nachdem er sich von den Nazis | |
abwandte, das Holz der Häuser, die Natur), und die Verantwortung, die sich | |
aus den verheerenden deutschen Jahren abgeleitet hat, entwerfen ein ganz | |
anderes Bild, als man es in den formatierten und verlogenen Anordnungen des | |
Fernsehens findet. Gefragt nach „Tannbach“ im ZDF, winkt er nur ab: | |
schrecklich. | |
Wer Jürgen Böttchers Film sieht, „Ofenbauer“ (1964), „Wäscherinnen“ … | |
„Rangierer“ (1984), um die Klassiker zu nennen, der sieht, selbst in dem | |
desillusionierten letzteren, eine Welt der Arbeit, die von heute aus wie | |
ein Paradies wirkt. Weil Böttcher ihr die Aufwartung macht, einen Film über | |
die Arbeiterinnen in einer Glühlampenfabrik „Stars“ nennt (Wenn man vorher | |
„Bardot“ sagt, strahlt die Blondine im Kittel tatsächlich stärker), und | |
weil die schwere Arbeit, die gemacht werden muss, noch wertgeschätzt wird. | |
Wie die Rangierer einen Rhythmus finden, um die Bremsklötze rechtzeitig | |
zwischen die rollenden Räder zu legen, der fast automatisch in Eleganz | |
resultiert; wie Wäschefrauen von „Schönheitssinn“ reden und als Gruppe ü… | |
den Hof scharwenzeln in Glück des Selbstbewusstseins; wie man sich für den | |
Beruf des Fleischers interessieren kann, der in niedersächsischen | |
Subsubunternehmen, in denen entrechtete Tagelöhner schuften, heute vor der | |
Kamera versteckt würde. | |
„Jahrgang 45“ bezeichnet innerhalb von Böttchers Werk eine Ausnahme, nicht | |
nur, weil es sich um einen Spielfilm handelt. Wenn die Arbeit in den | |
Dokumentararbeiten schön ist, aber Pflicht, dann steckt in dem Herumlaufen | |
in „Jahrgang 45“ ein Hedonismus, der im postindustriellen Zeitalter | |
pervertiert ist. Träume vom Weltfrieden und einer tatsächlich | |
gesellschaftlich sinnvoll gedachten Tätigkeit als Dispatcher, die die | |
schönen Jugendlichen in „Barfuß und ohne Hut“ darstellen, verfangen | |
jedenfalls nicht mehr. Ich habe den Film einmal mit Jugendlichen in Bonn | |
gesehen. Ich dachte, sie würden neidisch werden. Sie sagten abschätzig, die | |
Jungen und Mädchen im Film seien naiv. | |
■ 7. 2., Cinemaxx 8, 11 Uhr | |
6 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
MATTHIAS DELL | |
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