# taz.de -- Vom Sterben der Friedhöfe | |
> BESTATTUNG Die letzte Ruhe wird heute gern im Urnengrab gesucht und nicht | |
> im Sarg. Das sorgt für Platz auf Berlins Friedhöfen – und die Frage, wie | |
> man damit umgehen soll | |
VON CLAUDIUS PRÖSSER | |
Gibt es Orte, an denen Berlin romantischer verfällt? Hier bricht der Efeu | |
durch die Giebel der Mausoleen, dort zehrt der Rost an schmiedeeisernen | |
Zäunen. Verwitterte Grabsprüche warten auf ihre Entzifferung. Gleichzeitig | |
regt sich auf dem Alten Luisenstädtischen Friedhof am Südstern schon die | |
Natur: Es zwitschert und raschelt, die Knospen der Magnolie sind verdächtig | |
prall. Menschen sind dagegen nur wenige zu sehen, wenn man aus Jürgen | |
Quandts Büro schaut. Es liegt in einem backsteinernen Verwaltungsgebäude | |
neben dem Eingang an der Bergmannstraße. Bei Quandts Arbeit geht es um den | |
Tod von Menschen – und um das Sterben der Friedhöfe. | |
Der weißhaarige 70-Jährige mit Hornbrille und Dreitagebart führt die | |
Geschäfte des Evangelischen Friedhofsverbands Berlin Stadtmitte: ein | |
Zusammenschluss von Gemeinden mit über 40 Bestattungsplätzen zwischen | |
Weißensee und Wedding, Neukölln und Mariendorf. Als früherer | |
Gemeindepfarrer versteht Quandt sich aufs Theologische wie aufs | |
Organisatorische – und das ist gut, denn zu organisieren gibt es eine | |
Menge: das Bestatten und das Trauern, die Instandhaltung riesiger grüner | |
Stadtflächen und vor allem die Finanzen, die das alles mehr schlecht als | |
recht zusammenhalten. | |
„Hier an der Bergmannstraße liegen vier historische Friedhöfe“, erläutert | |
Quandt mit seiner leisen Stimme, „und jeder hatte früher eine eigene | |
Belegschaft, insgesamt rund 20 Mitarbeiter. Heute stemmen neun Angestellte | |
die ganze Arbeit.“ Die jährlichen Kosten für die Unterhaltung des | |
Gesamtgeländes betragen circa eine halbe Million Euro, das lässt sich aus | |
den Bestattungsgebühren, den Mitteln aus Grabpflegeverträgen, aus | |
Vermietungen und Kapitalerträgen gerade so decken. Für Investitionen fehlt | |
es schon an Geld: „Der Verfall der historischen Grabmäler ist so kaum | |
aufzuhalten.“ | |
Mit den Finanzen kämpft aber nicht nur Quandts Verband – das Problem haben | |
alle Träger. In erster Linie sind das Berlins evangelische Gemeinden und | |
die Bezirke. Zusammen kommen sie auf 170 Friedhöfe, verteilt über die ganze | |
Stadt. Ihre Besucher begegnen fast überall demselben Phänomen: Immer | |
größere Lücken klaffen zwischen den Gräbern, statt Marmor und Stauden | |
kahles Gras. Der Grund sind gravierende Veränderungen im Umgang mit dem | |
Tod. | |
„In den letzten 30, 40 Jahren haben wir einen Niedergang der traditionellen | |
Bestattungskultur erlebt“, sagt Jürgen Quandt und wird noch etwas leiser. | |
„Heute wird in Berlin vor allem in Urnengräbern bestattet, ein großer Teil | |
davon anonym.“ Die Kirche freue das nicht, sie glaube an die | |
Einzigartigkeit des Menschen. „Aber würden wir es nicht erlauben, ginge uns | |
die Hälfte der Bestattungen verloren.“ | |
Die Statistik der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung bestätigt: 80 | |
Prozent der Bestattungen in Berlin sind heute Urnenbestattungen – die | |
Hälfte davon wiederum in „Urnengemeinschaftsanlagen“ (UGA). Das sind | |
Flächen, auf denen nichts die Stelle markiert, wo die Überreste eines Toten | |
liegen. Während eine normale Urnenbestattung noch rund ein Viertel der | |
Fläche beansprucht, die ein Sarg notwendig macht, benötigt die Urne in | |
einer UGA nur noch rund drei Prozent davon. Der Flächenbedarf schrumpft | |
dramatisch. | |
Wie kommt es, dass der letzte Gang immer öfter einer in die Anonymität ist? | |
Ein Grund liegt auf der Hand: Es ist viel billiger. Vor allem in Sachen | |
Grabpflege, wo bei der Bestattung in Gemeinschaftsanlagen kaum Kosten | |
anfallen. Für Menschen mit kleinen Einkommen ein wichtiges Argument. Und | |
bei jenen, die für ihr Ende nicht vorgesorgt haben und deren Angehörigen | |
die Kosten nicht übernehmen können, sorgen die Sozialämter dafür, dass kein | |
Cent zu viel ausgegeben wird. „Sie suchen Wege, möglichst kostengünstig | |
bestatten zu lassen“, weiß Jürgen Quandt, „und verstoßen dabei schon mal | |
gegen den letzten Willen eines Verstorbenen, der vielleicht keine | |
Urnenbeisetzung gewollt hat.“ Solche Sozialbestattungen und die | |
„Ordnungsamtsbestattungen“ – wenn gar keine Hinterbliebenen aufzufinden | |
sind – machten in Berlin rund 10 Prozent der Bestattungen aus. | |
Die Veränderungen der Friedhofskultur sind aber nicht nur eine Frage des | |
Geldes. Klaus Neumann, Landschaftsarchitekt und Professor an der Weddinger | |
Beuth Hochschule für Technik, hat in einem Forschungsprojekt den Wandel des | |
urbanen Raums „Friedhof“ untersucht – und die gesellschaftlichen Ursachen. | |
Er sieht sie in der wachsenden Mobilität und einem Trend zur | |
Individualisierung. | |
Wenn Ortsgebundenheit nachlasse und viele ihrem Arbeitsplatz | |
hinterherziehen müssten, habe das auch Auswirkungen auf Bestattungsformen, | |
sagt Neumann – etwa weil nicht mehr sicher sei, dass sich die Nachkommen um | |
ein Grab kümmern können. Gleichzeitig würden neue Beisetzungsformen | |
attraktiv, die mit dem traditionellen Friedhof nur noch wenig zu tun haben, | |
etwa die „Friedwälder“, von denen immer mehr eröffnen, auch im Berliner | |
Umland. Sogar einen Trend zur Digitalisierung erkennt Neumann: „Es gibt | |
schon Gräber mit QR-Codes, die auf eine Website mit der Geschichte des | |
Verstorbenen führen.“ Erinnerung werde immer weniger mit physischen Orten | |
verknüpft. | |
## Der muslimische Faktor | |
Für die Friedhöfe in vielen Innenstadtbezirken gilt noch ein Faktor: Sie | |
liegen heute in Quartieren mit einem hohen Anteil muslimischer Bevölkerung. | |
Deren Verstorbene werden aber oft noch in die alte Heimat überführt oder | |
auf einem der islamischen Friedhöfe bestattet. (siehe dazu das Interview | |
auf Seite 45) | |
All das führt in der Summe zu riesigen Überhangflächen auf den Friedhöfen �… | |
und zu Kostenproblemen für deren Träger. Denn während die Summe der | |
eingenommenen Gebühren sinkt, bleibt der Arbeitsaufwand weitestgehend | |
gleich. Wege und Gebäude müssen instand gehalten werden, durch Baumpflege | |
muss verhindert werden, dass jemandem ein Ast auf den Kopf fällt, die | |
Lücken zwischen den Gräbern dürfen nicht unkontrolliert zuwuchern. Es ist | |
wie mit einem Mietshaus, dessen Betriebskosten nicht im gleichen Maße | |
sinken wie die Mieteinnahmen durch leer stehende Wohnungen. | |
## Geschlossene Friedhöfe | |
Ortswechsel: Schöneberg, Eisackstraße. Der landeseigene Friedhof | |
„Schöneberg I“ ist nicht leicht zu finden. Der etwas verwahrloste Eingang | |
liegt in einem toten Winkel zwischen S-Bahn-Ring und Autobahn. Zur etliche | |
Meter tiefer verlaufenden A100 fällt eine senkrechte Kante ab, und | |
tatsächlich lagen früher auch dort Tote, wo jetzt die Autos aus dem Tunnel | |
unterm Innsbrucker Platz rauschen. Der 1883 angelegte Friedhof war einst | |
dreimal so groß wie heute. Dann wich der östliche Teil den Vorarbeiten für | |
Hitlers „Germania“-Projekt. Tausende Gräber wurden umgebettet, heute | |
befindet sich hier eine Kleingartenkolonie. Der Autobahnbau in den 70ern | |
machte dem Mittelteil den Garaus. Auf dem kümmerlichen Rest befinden sich | |
nur noch wenige Gräber, und es kommen auch keine mehr hinzu: Seit 2006 wird | |
nicht mehr bestattet. | |
Vier Friedhöfe – ein weiterer am Schönberger Priesterweg, einer in Pankow | |
und einer in Köpenick – sind seit 2006 geschlossen worden. Das geschah auf | |
der Grundlage des Friedhofsentwicklungsplans (FEP), den der rot-rote Senat | |
damals im Einvernehmen mit der evangelischen Landeskirche beschloss. Es ist | |
der Versuch, dem Sterben der Friedhöfe aktiv zu begegnen, indem man nicht | |
mehr benötigte Flächen abtrennt und umnutzt. Die Schließung kompletter | |
Friedhöfe ist aber der Ausnahmefall. | |
Berlins Gräber sind über gut 1.000 Hektar Friedhofsfläche verstreut, 290 | |
Hektar davon sollen laut Plan über kurz oder lang anders genutzt werden. | |
Zum Vergleich: Der Große Tiergarten misst 210 Hektar. Bis zur tatsächlichen | |
Umnutzung vergeht in jedem einzelnen Fall viel Zeit: Vom Moment der | |
Schließung – sprich: der letzten Beisetzung – an müssen 20 Jahre vergehen, | |
denn so lange hat jedes Grab Bestandsschutz. Wenn die Fläche dann nicht als | |
Park oder Wald vorgesehen ist, sondern als Bauland, schlägt das Berliner | |
Friedhofsgesetz noch mal 10 Jahre drauf: Erst nach dieser „Pietätsfrist“ | |
darf der Boden bewegt werden. | |
Im November 2014 hat die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung einen | |
Umsetzungsbericht für den Friedhofsentwicklungsplan vorgelegt. Demnach ist | |
das Planwerk zu 70 Prozent verwirklicht: 90 Hektar wurden vollständig und | |
80 Hektar beschränkt geschlossen (hier können immer noch Angehörige | |
„nachbestattet“ werden). 39 Hektar wurden entwidmet, gelten also gar nicht | |
mehr als Friedhof. Letztere Flächen soll auf insgesamt rund 80 Hektar | |
anwachsen. Während die Bezirke als kommunale Friedhofsträger schon fast 90 | |
Prozent der geplanten Schließungen und Entwidmungen umgesetzt haben, hinken | |
die evangelischen Gemeinden hinterher. Auch das liegt am Geld: Für die | |
Pflege geschlossener Friedhöfe gebe es schließlich keine Mittel aus dem | |
Landeshaushalt, argumentiert man, und es sei auch nicht Auftrag der | |
Gemeinden, öffentliche Grünflächen zu unterhalten. | |
Richtig, sagt Beate Profé, die in der Senatsverwaltung das zuständige | |
Referat „Freiraumplanung und Stadtgrün“ leitet, „aber genau dafür wurde… | |
ein finanzieller Ausgleich geschaffen: Indem der Friedhofsentwicklungsplan | |
in Ausnahmefällen die wirtschaftliche Verwertung von Teilflächen | |
ermöglicht, kann der Unterhalt der Grünflächen gegenfinanziert werden.“ In | |
Zeiten, in denen Flächen für den Wohnungsbau Gold wert sind, eine | |
realistische Annahme. | |
Für diesen finanziellen Ausgleich sorgt auch der 2009 gegründete | |
Friedhofsverband Stadtmitte. Laut Geschäftsführer Quandt werden die | |
Einnahmen aus Grundstücks-Deals auch dringend gebraucht. Dass das | |
Immobiliengeschäft seine Tücken hat, zeigte aber das Beispiel des Friedhofs | |
St. Marien/St. Nikolai II an der Heinrich-Roller-Straße in Prenzlauer Berg. | |
Hier konnte und wollte die Kirche einen bereits geschlossenen Abschnitt | |
entwidmen, um ihn an einen Bauinvestor zu verkaufen. Nach Protesten der | |
Anwohner, die die Grünfläche erhalten wollten, verkaufte der Verband einen | |
Teil dem Bezirk. Heute spielen hier Kinder im Leise-Park zwischen alten | |
Grabsteinen. | |
Umnutzung kann aber auch in kleinerem Maßstab stattfinden und einträglich | |
sein – etwa durch Vermietungen an Gastronomie. Im Eingangsbereich des | |
Friedrichswerderschen Friedhofs an der Bergmannstraße, nicht weit von | |
Jürgen Quandts Büro, hat das Café Strauss eine Heimat in der ehemaligen | |
Aufbahrungshalle gefunden. Es ist nach dem Café Finovo auf dem Alten | |
St.-Matthäi-Kirchhof schon das zweite „Friedhofscafé“ in Berlin, und es | |
wird keineswegs nur von Trauergästen genutzt. | |
## Neues Leben um die Gräber | |
„Vom Ort der Toten zum Ort der Lebenden“, nennt Beuth-Professor Neumann | |
diesen Wandel. Er hat geplante und bereits umgesetzte Beispiele aus | |
Deutschland und dem europäischen Ausland zusammengetragen: „Das können | |
Schutzgebiete für bedrohte Arten sein, aber auch Anbauflächen für | |
Obstgehölze, Energiepflanzen oder Weihnachtsbäume.“ Neumann hält | |
historische Friedhöfe auch als kulturelle Veranstaltungsorte für geeignet. | |
Als Beispiel dienen ihm die Kulturnächte auf dem riesigen Südwestkirchhof | |
in Stahnsdorf. | |
So optimistisch das klingt: An Jürgen Quandts Sorge um den Verfall von | |
Denkmälern und Friedhofskultur ändert es erst einmal nicht viel. Aber ein | |
Pfarrer verliert nicht die Hoffnung. Einerseits, so Quandt, kümmere sich | |
die Stiftung Historische Kirchhöfe und Friedhöfe um die Rettung der | |
bröckelnden Mausoleen – durch die Einwerbung von Fördermitteln oder die | |
Vergabe von „Grabpatenschaften“. Andererseits seien Tendenzen gegen den | |
Trend zu erkennen, keine Spur zu hinterlassen: „Einzelne Gruppen setzen | |
sich intensiver mit dem Tod auseinander, das schlägt sich auf dem Friedhof | |
nieder.“ Grabfelder für Neu- und Ungeborene seien ein Beispiel, auch solche | |
von Menschen, die an Aids gestorben sind. | |
Eine Kompromisslösung könnten die „halb anonymen“ Gemeinschaftsanlagen | |
sein, die Quandts Verband plant: gärtnerisch gestaltete Flächen, in denen | |
nicht mehr Hunderte Tote beigesetzt werden, sondern vielleicht nur noch 50, | |
mit einer Stele, auf der die Namen aller Beigesetzten stehen. Es wäre ein | |
Anhaltspunkt für die Erinnerung – auch wenn Quandt die Macht des Vergessens | |
bewusst ist: „Dass kein Grab ewig ist, wissen wir.“ | |
14 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
CLAUDIUS PRÖSSER | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |