# taz.de -- Das Schiefe rückt gerade | |
> ABSTRAKTION Unter dem Titel „Abschied von der Lumpenliese“ zeigt Kirsi | |
> Mikkola in der Galerie carlier/gebauer wilde und lebhafte Bilder, die | |
> knallbunt explodieren und den Raum zum Verschwinden bringen | |
VON BRIGITTE WERNEBURG | |
Der große, hohe Ausstellungsraum bei carlier/gebauer hat plötzlich | |
bescheidene Ausmaße. Das kommt durch die riesigen Tondi und Tableaus, die | |
Kirsi Mikkola hier unter dem Titel „Abschied von der Lumpenliese“ gehängt | |
hat. Wilde, lebhafte Bilder, die knallbunt explodieren und den Raum zum | |
Verschwinden bringen. Und die dann wieder ganz fahl erscheinen an anderen | |
Stellen. Aber immer sind sie abstrakt. | |
Kirsi Mikkola, die sich die Galerie mit Mark Wallinger teilt, stiehlt ihrem | |
Kollegen, der ein Video und eine Diaserie zeigt, die Schau. Mark Wallinger | |
ist der internationale Star der Galerie, Kirsi Mikkola hingegen ein Relikt. | |
Ulrich Gebauer stellte sie schon aus und vertrat sie, als er noch in | |
Kreuzberg in der Oranienstraße saß. Damals arbeitete sie | |
plastisch-figurativ und ließ hinreißend böse Mädchen auf plumpe, | |
dickbäuchige Männlein und auf die Berliner Kunstszene insgesamt los. Die | |
kleinen, in kräftigen, doch abgetönten Farben bemalten Gipsfiguren wuchsen | |
mit der Zeit etwas. Als sie halbe Lebensgröße erreicht hatten, machten sie | |
es sich als „Odalisque in Combat-Pants“ oder „Odalisque in Tan-T-Shirt“… | |
dem Galerieboden bequem: hochironische, pop- und postmoderne Skulpturen. | |
Dekorationsstücke mit einem kräftigen Schuss Feminismus. Kirsi Mikkola | |
hatte was los, das war klar. | |
Deshalb zog sie auch nur drei Jahre nach ihrem Abschluss an der UdK, Mitte | |
der 90er Jahre, nach New York. Dort wandte sie sich der Malerei zu, sie | |
arbeitete weiterhin figurativ, doch die Farben waren nun dunkel, Tendenz | |
Schwarz in Schwarz. Sie selbst aber sah strahlend, sehr hell und sehr blond | |
aus; wozu die Postkarten aus mondänen Orten wie Cap d’Antibes passten, die | |
anfangs noch in Berlin eintrudelten. Aber das war’s dann für lange Zeit. | |
Bis Kirsi Mikkola vor zweieinhalb Jahren überraschend in Berlin auftauchte | |
mit fulminanten Collagen; kleinen abstrakten Blättern, die sie aus bunten | |
Papierstreifen und -feldern aufgebaut hatte. Es kostete sie Überwindung, | |
Ulrich Gebauer die Blätter zu zeigen. Aber ihr Mut wurde belohnt, denn ihre | |
neuen Arbeiten begeisterten den Galeristen, der sie also wieder – oder | |
weiterhin –vertrat, wer weiß das schon. | |
Jetzt wünscht man sich in der Galerie eine Bank wie im Museum. Denn man | |
möchte sich in aller Ruhe in die komplexen Strukturen an der Wand | |
vertiefen, mit denen Kirsi Mikkola eine ganz eigene Form von abstrakter | |
Malerei entwickelt hat. Statt Pinselstrichen fügt die finnische Künstlerin | |
unzählige Papiersteifen neben- und übereinander und abstrahiert derart | |
Gefühle, Gedanken und Geschichten in die malerische Oberfläche. „I will | |
never forget you“ lautet der Titel eines goldgelben Wirbels, in dem Kirsi | |
Mikkola ihre Erschütterung über den grausamen Mord an einem Kind ausdrückt: | |
in einem ungegenständlichen Farb- und Formenspiel, in dem das helle Gelb | |
sich knirschend an einem braunen Orange reibt, das dann wieder friedlich in | |
einem reich schattierten hellen Blau zu schwimmen scheint. Je länger man | |
das Tondo betrachtet, desto mehr gewinnt er. Denn Mikkolas Abstraktionen | |
fehlt jedes dekorative Entgegenkommen. | |
Im Gegenteil schauen sie erst einmal ganz schön abgerockt und ein bisschen | |
trashig aus. Aber dann heben sich die Dissonanzen der Farben in der | |
filigranen Struktur der Oberfläche auf; das Schiefe rückt gerade, und die | |
dicht, geradezu reliefartig verwobenen, bemalten Papierstücke und | |
-streifen, die an ein abgerissenes Plakat erinnern, zeigen einen ganz und | |
gar malerischen Duktus, detailreich, zart, inmitten kraftvoll gesetzter, | |
monochromer Flächen. Wenn man je länger, je lieber bei Kirsi Mikkolas | |
Abstraktionen verweilt, liegt das auch daran, wie sie einen verführen, den | |
Prozess der Abstraktion selbst nachzuvollziehen und seine eigenen | |
Empfindungen und Erinnerungen unter den Farben und Formen zu subsumieren. | |
Für „Hauch“ beispielsweise wünschte ich mir wirklich eine große Wand und | |
viel Zeit, um irgendwann dahinterzukommen, ob das große, bunt strahlende | |
Tondo nicht doch „City – Night“ heißen sollte. | |
■ Bis 3. Dezember, carlier/gebauer, Markgrafenstr. 67, Di.–Sa. | |
14 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
BRIGITTE WERNEBURG | |
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