Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Der Bonzenpalast mit den 254 Fenstern
> STADTENTWICKLUNG Der Braunschweiger Architekt Carl Mühlenpfordt hat von
> 1929 bis 1932 ein vorbildhaftes Verwaltungsgebäude für die damals noch
> junge AOK gebaut. Lange wurde die spätere Zweckentfremdung des Gebäudes
> durch die Nazis verschwiegen
VON BETTINA MARIA BROSOWSKY
Die Geschichte des Baus der Braunschweiger Ortskrankenkasse ist
bemerkenswert. Die Institution Ortskrankenkasse (AOK) entstand ab 1911 aus
dem Zusammenschluss erster, von der Arbeiterschaft getragener Hilfskassen.
1929 wurde der Neubau der AOK an der Promenade Fallerslebertor beschlossen.
Den Auftrag erhielt der ehemalige Student der TU Braunschweig Carl
Mühlenpfordt ohne vorherigen Wettbewerb, die Kosten für den Bau wurden
nicht erörtert. Als das stattliche Bauwerk in seiner Kontur erkennbar
wurde, geriet es prompt ins Schlussfeld bürgerlicher Kritik.
Karikaturen und Berichte in der Presse verhöhnten das Gebäude als
„Bonzenpalast“ und als „Haus der 254 Fenster“, es wurden Baukosten in H…
von 2,7 Millionen Reichsmark kolportiert. Das Reichsversicherungsamt griff
ein und legte fest, dass die AOK von den 9.000 Quadratmetern Nutzfläche
4.000 Quadratmetern fremd vermieten müsse.
## Baukunst gewürdigt
Mühlenpfordt wurde 1914 als Professor für Mittelalterliche Baukunst an die
TU Braunschweig berufen, er lehrte dort Baukunde. Man würdigte sein
städtebauliches Wirken, etwa in Berlin, Frankfurt und Lübeck. 1920 nahm er
als Dekan an der reichsweiten Reformierung der Architekturlehre teil,
lehnte aber ein Ausbildungsmodell wie am Bauhaus ab.
Als Mitglied einer schlagenden Verbindung war Mühlenpfordt
national-konservativ eingestellt. In seiner Architektur favorisierte er den
norddeutschen Backsteinbau und eine pittoresk kleinteilige, additive
Formensprache. Diese Haltung lässt sich am ehesten unter den vagen Begriff
einer Reformarchitektur eingliedern.
Seine Aufträge bekam Mühlenpfordt aus dem großbürgerlich industriellem
Umfeld. Mit dem Gebäude für die AOK gelang ihm für die typologisch junge
Aufgabe der Krankenkasse eine vorbildhafte Lösung: Um eine zweigeschossige
zentrale Schalterhalle mit Oberlicht sind Beratungsbüros angeordnet,
interne Verwaltungsräume und medizinische Einrichtungen verteilen sich auf
die Stockwerke. Die Baugestalt findet in der reduzierten Komposition
massiger Baukörper den selbstbewussten Auftritt, Fenster und stämmige
Pfeiler am Eingang zeigen einfachen keramischen Bauschmuck. Der große
Zugangsturm setzt den Akzent.
Fertiggestellt wurde das Verwaltungsgebäude 1932, im selben Jahr als Adolf
Hitler durch die Regierung des Freistaats Braunschweig zum Regierungsrat
beim Landeskultur und Vermessungsamt ernannt und zugleich an die
Braunschweigische Gesandtschaft in Berlin abgeordnet wurde. Dort sollte er
Braunschweiger Wirtschaftsinteressen vertreten. Der eigentliche Zweck der
Ernennung Hitlers zum Beamten war, dem seit 1925 Staatenlosen die deutsche
Staatsbürgerschaft zu verschaffen. Die Einbürgerung war wiederum die
Voraussetzung für seine Kandidatur um das Amt des Reichspräsidenten. Zwar
unterlag er Hindenburg, der Propaganda-Erfolg, die zahllosen
Wahlkampfauftritte, die ostentativ modern per Flugzeug absolviert wurden,
waren aber eine Weichenstellung auf dem Weg Hitlers zur Macht und sie
erfolgte im Land Braunschweig.
So bewertete es 2013 der Politikwissenschaftler Ulrich Menzel,
Lehrstuhlinhaber und seit 2004 Leiter des Instituts für
Sozialwissenschaften der TU Braunschweig. Bevor Hitler zum Regierungsrat
benannt wurde, wurde eine andere Idee verfolgt: Hitler sollte zum
planmäßigen außerordentlichen Professor für „Organische Gesellschaftslehre
und Politik“ an die Kulturwissenschaftlichen Abteilung der TH Braunschweig
berufen werden. Hitlers „Mein Kampf“ sollte die notwendige Qualifikation
dafür liefern, im Sinne eines sozialdarwinistischen Politikverständnisses,
dass Politik auf Kampf beruhe.
## „Professor Hitler“
Die Reaktion auf die Berufungsabsicht, im Alleingang von Innen und
Volksbildungsminister Dietrich Klagges betrieben – er war seit 1925
NSDAP-Mitglied, ab 1930 Minister in der reichsweit ersten
Regierungsbeteiligung und von 1933 bis 1945 Ministerpräsident des
Freistaats – reichte an der TH von Belustigung bis zur Empörung und stieß
auf den einhelligen Widerstand von Rektor, Senat und nahezu der gesamten
Professorenschaft. Ein „Professor Hitler“ ohne jegliche akademische
Qualitäten wurde als eine Zumutung empfunden, die die Hochschule dem
Gespött der akademischen Zunft ausgesetzt hätte. Von der Unruhe in der
Studentenschaft, die eine Vorlesung Hitlers ausgelöst hätte, ganz zu
schweigen. Die Gerüchte um eine Berufung dürften wochenlang das Top-Thema
der Hochschule gewesen sein, zumal es durch entsprechende Presseberichte
immer wieder befeuert wurde, schreibt Ulrich Menzel dazu weiter.
Dieses Maß an kritischer Vernunft darf aber nicht den Blick dafür
verstellen, dass bereits in den Jahren vor der Gleichschaltung durch die
NSDAP politische Kontroversen an der TH Braunschweig aufkamen, etwa durch
Agitationen des NS-Studentenbundes. Ein bauhistorisches Kolloquium der
Universität zu Leben und Wirken des Architekten, Hochschullehrers,
zeitweiligen Rektors und Prorektors Carl Mühlenpfordt befasste sich
kürzlich leider wenig mit dieser Stimmungslage und der politischen
Positionierung Mühlenpfordts in dieser Zeit. Auch blieb sein
Schlüsselbauwerk in Braunschweig, die zwischen 1929 und 1932 errichtete
Ortskrankenkasse sowie ihre blutige Geschichte im Rahmen der
Machtinstallation der NSDAP unerwähnt.
Mit der Machtergreifung der NSDAP begann 1933 auch in Braunschweig die
systematische Verfolgung politischer Gegner. Bereits am 30. Januar nutzte
der Rektor der TH, Gustav Gassner, leerstehende Räume der AOK als Versteck
vor der anschließenden Flucht. Im März 1933 requirierte der andernorts
ergebene national-konservative Frontkämpferbund „Stahlhelm“ Teile der AOK
im Versuch, aktiven Widerstand in Braunschweig aufzubauen. Politisch
Gleichgesinnte wurden aufgefordert, sich anzuschließen. Die etwa 1.400
Menschen, die sich am Abend des 27. März 1933 vor der AOK versammelten,
wurden durch Polizei, SS und SA gewaltsam ins Gebäude getrieben und, auf
verschiedene Geschosse verteilt, grausam gefoltert.
Dieser Gewaltakt unter Innenminister Dietrich Klagges in einem Symbolbau
demokratisch-arbeiterschaftlicher Organisation war laut Ulrich Menzel der
erste seiner Art im deutschen Reich, somit ein neuerlicher Präzedenzfall
aus Braunschweig. Später besetzte die SA das Gebäude, inhaftierte und
folterte hier etwa 250 politische Gegner, sechs wurden ermordet, zehn
Gewerkschafter zur Ermordung verschleppt. Eine unscheinbare Steinplatte im
Pflaster erinnert an die Grausamkeiten.
Bis August 1933 wurden 24 der 108 Professoren und Lehrkräfte der TH
Braunschweig entlassen. Während der gesamten Zeit nationalsozialistischer
Herrschaft wurden mehr als 50 Angehörige der TH vertrieben, verfolgt,
ermordet. Seit 2014 erinnert eine Stolperschwelle vor der Treppe des
Hauptgebäudes an sie. Carl Mühlenpfordt verließ die Hochschule 1934, zog
sich nach Lübeck zurück, verfasste 1942 einen Wiederaufbauplan und starb
dort. Sein Werk und die politische Person Mühlenpfordt wären weiter zu
erforschen.
10 Mar 2015
## AUTOREN
BETTINA MARIA BROSOWSKY
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.