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# taz.de -- „Ich helfe den Deutschen beim Aufräumen“
> DIE AUTORIN Dorota Danielewicz kam 1981 als 16-Jährige mit ihren Eltern
> aus dem polnischen Posen nach Westberlin. Es war ein Umzug gegen ihren
> Willen. Die junge Frau zog sich zurück, dachte sogar an Flucht. Mehr als
> 30 Jahre später hat sie eine Liebeserklärung an die Stadt geschrieben,
> die sie sich erst peu à peu erobern musste
INTERVIEW UWE RADA FOTOS ANJA WEBER
taz: Frau Danielewicz, Sie können wunderbar von Friedhöfen erzählen.
Welcher ist denn Ihr liebster Friedhof?
Dorota Danielewicz: Auf dem Friedhof in der Bergmannstraße gibt es zum
Beispiel Bänke, wo man sich in der Sonne hinsetzen kann. Oder der
Matthäus-Friedhof an der Yorckstraße, wo die Gebrüder Grimm begraben
liegen. Als ich 1981 nach Berlin gekommen bin, haben wir in der Nähe
gewohnt. Ich bin oft zu diesem Friedhof gegangen, um dort ein wenig Ruhe zu
finden.
Die Ruhe bei der schweren Arbeit, als Jugendliche in der Fremde Wurzeln zu
schlagen?
Ja, so war das damals. Heute finde ich auch den Friedhof an der Prenzlauer
Allee interessant. Er ist so wild und abenteuerlich gestaltet. Auch wenn
dort Horst Wessel begraben liegt.
Friedhöfe sind nicht nur die letzte Ruhestätte, sondern auch ein Stück
letzte Heimat. Als Ihr Großvater bei einem Besuch aus Posen in Berlin
starb, wurde der Sarg mit seinem Leichnam nach Polen überführt. Warum?
Seine Frau, meine Großmutter, lag schon in Posen. Sie ist vor ihm
gestorben. Sie wollten zusammen bestattet werden.
Sie berichten in Ihrem Buch „Auf der Suche nach der Seele Berlins“ von
einem grenzüberschreitenden Bestattungsverkehr. So habe es lange Zeit
richtige Trauerfeiern am Stettiner Bahnhof gegeben, bevor die Särge dann in
die Geburtsorte der Toten überführt wurden. Oft wurden die Leichen vorher
auch illegal nach Polen gebracht. Ist Berlin für viele polnische Berliner
noch immer kein guter Ort, bestattet zu werden?
Das hängt stark davon ab, wo die Familien der Toten leben. Aber natürlich
ist das für Emigranten ein großes Thema: Wo lassen wir uns bestatten? Auch
wenn man gern in Berlin, Paris oder London lebt, wollen viele ihre letzte
Ruhe noch immer in Polen finden. Es ist wohl diese Sehnsucht, wenigstens
nach dem Tod in der Heimat zu sein. Das ist schon paradox, wenn man sich
anschaut, wie sich das im Lauf der Geschichte verändert hat. Früher wollten
die Leute nicht wegziehen von den Orten, an denen ihre Ahnen lagen. Jetzt
wollen sie nach dem Tod zurück. Dabei könnte man so wunderschön auf dem
wilden Friedhof an der Prenzlauer Allee begraben sein.
Wie ist das bei Ihnen? Wollen Sie in Berlin begraben werden? Oder in Posen,
wo Sie 1964 geboren wurden?
In Berlin. Oder genauer gesagt, auf dem Waldfriedhof in Stahnsdorf. Da wird
man unter einem Baum begraben. Es ist ein Friedhof, dem man nicht ansieht,
dass es ein Friedhof ist.
Als Sie 1981 von Polen nach Westberlin kamen, waren Sie 16 Jahre alt. Nun,
mehr als 30 Jahre später, haben Sie ein Buch über Berlin geschrieben. Warum
hat das so lange gedauert?
Die Notizen habe ich schon während meiner vielen Jahre als Journalistin
gemacht. Manchmal in Tagebuchform, manche Geschichten waren auch
ausformuliert. Aber ich war immer sehr beschäftigt, auch weil ich zwei
Kinder habe, eines davon schwerbehindert und sehr hilfebedürftig. Eines
Tages aber kam eine polnische Schriftstellerin nach Berlin. Sie hatte ein
Stipendium, und ich habe ihr viele Geschichten erzählt. Sie hat sofort
gesagt: Da musst du ein Buch draus machen.
Eine hübsche Idee, in der aus den meisten Fällen nichts wird.
Sie ist aber in Warschau sofort zu ihrem Verleger, und kurz darauf hatte
ich den Vertrag.
Wäre das Buch vor zehn oder vor zwanzig Jahren auch eine Liebeserklärung
geworden?
Vor zehn Jahren schon. Aber diese Liebe musste wachsen, das stimmt. Sie
konnte nicht entstehen, so lange ich in den ersten Jahren von Polen
abgeschnitten war. Kurz nach unserer Ankunft wurde dort das Kriegsrecht
verhängt. Allerdings konnte ich schon vor 1989 wieder nach Polen reisen.
Den Kontakt zu Posen, zu meinen Großeltern und meinen Freunden wieder
aufzunehmen, war sehr erleichternd. Da erst habe ich gemerkt, dass ich auch
immer wieder gern nach Berlin zurückkomme.
Das war das Verliebtsein, und die Liebe?
Die hat nach dem Mauerfall begonnen. Das ich das hier erleben durfte, hat
sehr viel bewegt. Man kann ja mit einer Stadt genauso gut eine Beziehung
aufbauen wie mit einem Menschen. Und wenn man so etwas erlebt wie den
Mauerfall, dann schweißt das auch zusammen.
Viele polnische Berliner sagen, dass es drei Phasen der Emigration gäbe.
Die erste ist die Phase der Euphorie, die zweite die Ernüchterung, die ihr
folgt, bis dann die sehr lange Phase des sich Aneignens des vormals fremden
Orts beginnt.
Bei mir war es anders. Das mit der Euphorie fiel aus.
Warum?
Ich wollte Posen überhaupt nicht verlassen. Aber meine Eltern haben sich so
entschieden.
Gegen Ihren Willen?
Und ohne mein Wissen. Die haben mich in den Zug gesetzt und überhaupt nicht
gesagt, wohin die Reise geht.
Sie haben in Polen Ihren ersten Freund zurückgelassen.
Ja, das war unglaublich tragisch für mich damals. Und auch meine Schule,
meine Stadt, in der ich jede Ecke kannte. Ich konnte mir damals nicht
vorstellen, in einer anderen polnischen Stadt zu leben, so sehr war ich an
Posen gebunden. Für mich war alles perfekt. Außerdem war es auch noch die
Zeit der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność. Es war also ziemlich
aufregend. Die Lebensmittelknappheit war kein Thema, die politischen
Veränderungen waren so spannend, dass ich das Verlassen von Polen als eine
Art Verrat empfand.
Warum haben sich Ihre Eltern zur Ausreise entschieden?
Mein Vater wurde in Polen von den Sicherheitskräften bedrängt. Er sollte
Informationen weitergeben, weil seine Firma mit einer westdeutschen Firma
zusammenarbeitete. Außerdem wurde ihm bedeutet, dass in Polen bald das
Kriegsrecht verhängt würde und er verhaftet werden könnte.
Wann haben Ihnen Ihre Eltern eröffnet, dass Sie Posen und Ihren Freund so
schnell nicht wiedersehen?
Erst in Marienfelde. Ich dachte zuerst, wir besuchen Bekannte. Und dann
landeten wir in diesem Auffanglager. Das war ein Schock. Das ganze
Gegenteil von Euphorie.
Wie haben Sie reagiert?
Ich bin nicht so der Mensch, der sich zofft. Ich hab mich zurückgezogen und
verweigert. Und manchmal hab ich sogar an eine Flucht nach Polen gedacht.
Wie lange hat es gedauert, bis Sie offen für Ihre neue Umgebung waren?
Erst einmal musste ich die Sprache lernen. Besser wurde es aber erst, als
ich die ersten Deutschen kennengelernt habe. Das war Silvester 1981 bei
einem Konzert von Tangerine Dream vor dem Reichstag. Mit denen habe ich
mich dann verabredet. Dann die erste WG.
In Ihrem Buch erzählen Sie diese Geschichte der Aneignung in vielen kleinen
persönlichen, oft berührenden Geschichten. Da war zum Beispiel dieses
Treffen mit Krzysztof, Ihrem alten Freund aus Posen, den Sie viele Jahre
später in der Paris-Bar wieder getroffen haben. Am Nachbartisch saß
übrigens Otto Sander.
Krzysztof hat mir meine Briefe gebracht, die ich ihm damals geschrieben
habe. Es war eine Art nachgeholter Abschied.
Was wäre denn aus Ihnen geworden, wenn Sie damals Posen nicht hätten
verlassen müssen?
Das frage ich mich auch sehr oft. In Posen hatte ich Pläne: Abitur,
Studium. Ich wollte Journalistin oder Schriftstellerin werden. Westberlin
war eine Stadt ohne Kompass für mich, ein Dschungel, in dem ich mich erst
mal zurechtfinden musste. Alles war hier provisorisch, unecht, ein wenig
wie in den Ferien. In Posen hatte ich Gedichte geschrieben, in Berlin war
mir die Sprache abhanden gekommen. Deutsch war mir fremd, ich hätte es nie
freiwillig gelernt, kannte die deutsche Kultur nicht, und die einzigen
Sätze, die ich in Deutsch sprechen konnte, stammten aus den polnischen
Kriegsfilmen? Sie können sich denken, was das war. Ich dachte, ich schreibe
nie wieder ein Gedicht.
Beim Tangerine-Dream-Konzert haben Sie ein paar deutsche Jungs
kennengelernt. Zuerst haben Sie mit Ihnen Englisch gesprochen, und
plötzlich wechselten Sie ins Deutsche. War das auch der Moment, in dem Sie
Krzysztof vergessen haben?
Nein, ich habe ihn lange nicht vergessen. Aber es war klar, dass meine
Ausreise eine Trennung bedeutete. Ich musste mich entscheiden. Trauern und
in der Erinnerung leben? Oder weiterleben, also mich für die Gegenwart
entscheiden? Ich habe mich für das Weiterleben entschieden.
Sie und ich gehören einer Generation an und sind in der gleichen Zeit nach
Westberlin gekommen. Wir haben die gleiche Musik gehört, Tangerine Dream,
waren in der gleichen Kneipe, der Dicken Wirtin, haben uns bestimmt in der
Buchhandlung im Literaturhaus in der Fasanenstraße gesehen: Trotzdem
schreiben Sie in Ihrem Buch, dass Ihre Geschichte in dieser Stadt noch
nicht erzählt worden sei. Warum?
Jeder Berliner hat seine eigene Story zu erzählen, Sie ihre, ich meine.
Aber es gab bislang kein Berlinbuch eines polnischen Migranten. Das hat
mich selber gewundert. Es gibt hier viele Menschen aus Polen, die gern und
gut schreiben, eine ganze Community, und das seit den achtziger Jahren. Sie
schreiben allerdings von etwas anderem, Romane, Krimis, Gedichte oder
kehren in ihren Texten zurück in ihre polnische Vergangenheit. Tatsächlich
ist das sehr persönliche Buch über das Zusammenwachsen mit der Stadt noch
nicht geschrieben worden. Irgendjemand musste das tun, also habe ich es
gemacht. Zuvor habe ich allerdings ein historisches Buch über 200 Jahre
Polen in Berlin veröffentlicht.
Sie kommen in Ihrem Buch immer wieder auf die Geschichte zurück, auch auf
die Geschichte vor 1945. Allerdings ohne dabei den Zeigefinger zu heben. Im
Gegenteil. Oft versetzen Sie sich in Ihre deutschen Gesprächspartner und
schauen auf das Gepäck, das diese mit sich tragen. War das von Anfang an
so?
Nein. Ein solcher Perspektivwechsel war mir erst in den letzten Jahren
möglich. Auch durch meinen Sohn Alexander, der sich als Berliner fühlt, als
Deutscher mit allen Konsequenzen, obwohl er sehr wohl um seine polnischen
Wurzeln weiß. Heute vergleiche ich das wie mit einem Besuch bei Freunden.
Wenn es am Ende an den Abwasch geht, helfe ich mit aufräumen. So ist das
auch mit denen, die Deutschland besuchen. Sollen die sagen, wir sind die
Besseren, die Opfer, wir stehen auf der richtigen Seite?
Also helfen Sie den Deutschen beim Abwasch ihrer Vergangenheit.
Ja, ich helfe mit aufräumen. Auch wenn ein Teil meiner Familie im KZ
umgekommen ist. Aber warum sollen wir nicht zusammen weinen? Nur so kommt
man aus dem ewigen Täterstatus raus, aber auch aus dem Opferstatus, den ich
auch nicht ertragen kann.
Ihr einer Zugang zu Berlin ist die Geschichte, Ihr anderer die Literatur.
Berlin ist ja auch für polnische Autorinnen und Autoren schon immer auf der
Landkarte gewesen. Wie hat sich denn das Berlinbild in Polen geändert?
Unter jungen Menschen ist Berlin einfach eine hippe Stadt. Das ist ganz
anders als zu meiner Zeit. Heute kommen die jungen Leute nach Berlin zum
Studieren, manchmal leben sie ein halbes Jahr hier, probieren etwas Neues.
Es ist ja hier auch billiger als in Warschau. Einige meiner Bekannten
sagen, dass Berlin inzwischen die zweite Hauptstadt Polens ist. Es gibt
keine Angst mehr vor Berlin.
Viele polnische Migranten der achtziger Jahre haben in Berlin auch die
alternative Szene kennengelernt.
Das war faszinierend. Ich hatte damals Kontakt mit Klaus Schlesinger, einem
Schriftsteller aus Ostberlin, der in der Potsdamer Straße in einem
besetzten Haus lebte. Das war eine Welt, in der ich mich wohl fühlte.
Allerdings stieß da immer wieder der Antikommunismus der polnischen
Oppositionellen mit dem Antiamerikanismus der Alternativszene zusammen.
Blieb es da dabei? Oder ist da auch ein Dialog entstanden?
Oh, ich glaube, dieser Dialog dauert noch an. Das ist eine wichtige
Geschichte, die bislang auch noch niemand erzählt hat. Das wird ein Thema
in meinem neuen Buch sein. Da geht es um die alternative Szene, um Punks,
besetzte Häuser. Ich fand es schon immer spannend, diese Widersprüche zu
betrachten. Auf der einen Seite dieses Verhalten, als ob man arm wäre und
nichts anzuziehen hätte. Schlicht wohnen, nur mit Matratze auf dem Boden.
Der Antikonsum. Auf der anderen Seite die wohlbehütete Herkunft. Für
jemanden aus dem realkommunistischen Osten war es eine recht merkwürdige
Mischung.
Haben Sie da Einspruch erhoben?
Ja, hab ich. Ich hab in den WGs stundenlang diskutiert. Ohne Ergebnis.
Anders war das nach der Wende bei den DDR-Bürgerrechtlern, die ja oft sogar
Polnisch gelernt haben, um sich in Polen über die Solidarność zu
informieren. Wie gesagt, der Dialog hält an. Die Debatte um Putin ist in
gewisser Weise die Fortsetzung.
Auf der Suche nach der Seele Berlins. Das ist ein Titel mit hoher Fallhöhe.
Wo haben Sie sie denn gefunden, diese Seele?
Eine Seele der Stadt, das ist sehr viel. Ich habe mir zum Beispiel Karten
angeschaut. Ich habe mir die Flüsse angeschaut, die ja das Lymphsystem der
Stadt darstellen. Ich habe sogar ein schamanisches Ritual gemacht, bevor
ich zu schreiben angefangen habe. Jemand hat gesagt, dass im Tiergarten an
einer bestimmten Stelle das Herzschakra der Stadt ist. Also bin ich da hin
und habe einen Kreis aus Stöcken gebaut. Das war eine richtige Zeremonie.
Ich glaube, dass es vor allem die Menschen und ihre Geschichten sind, die
die Seelenkarte einer Stadt schreiben. Die Stadt bin ich und du und alle
anderen. „Sei Berlin, Berlin ist währenddessen Du“ singen die „Tonträge…
dieses Lied könnte eine wunderbare musikalische Begleitung meines Buchs
sein.
Sie nehmen auf Ihren Erkundungen immer wieder die Vogelperspektive ein.
Einer Ihrer Lieblingsfilme über Berlin ist Wim Wenders „Der Himmel über
Berlin“. Sie steigen hoch auf den Gasometer in Schöneberg und blicken
herunter auf die Stadt wie die Engel in Wenders Film. Warum diese
Perspektive?
Vor Kurzem war ich endlich auf dem Turm der Markuskirche. Man merkt von da
oben, dass Berlin keine hohe Stadt ist, sondern in die Weite geht. Man
sieht das Besondere der Stadt, ihre Silhouette mit all den
charakteristischen Punkten. Wenn man von oben schaut, bekommt man einen
Überblick über das Ganze. Aber ich habe noch eine andere Perspektive beim
Schreiben gehabt: Gern gehe ich vom Detail in die Betrachtung eines
größeren Zusammenhangs. Die Welt ist fraktal aufgebaut, und so kann in der
bescheidenen Geschichte von einem unbekannten Menschen die große Geschichte
der Stadt widergespiegelt werden.
Das gilt für Sie auch für den Markusplatz, den Ort, an dem sie schon lange
leben. Ihr Markusplatz befindet sich aber nicht in Venedig, sondern im
Steglitzer Süden. Von hier beginnen Sie ihre Berliner Erkundungen, hierher
kommen Sie immer wieder zurück. Ist der Markusplatz der Ort Berlins, an dem
sie angekommen sind?
Ja, hier bin ich angekommen. Es ist ein sehr unspektakulärer, jedoch
wunderschöner Platz. Das genaue Gegenteil vom Markusplatz in Venedig. Ich
kenne inzwischen viele Nachbarn, es gibt eine aktive Initiative zur bunten
Bepflanzung der Beete, und wir haben auch eine Bücherbox aufgestellt. Hier
gibt es wieder diese Stille, die ich schon damals als 16-Jährige auf dem
Alten St.-Matthäus-Kirchhof an der Yorckstraße gefunden habe.
21 Mar 2015
## AUTOREN
UWE RADA
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