# taz.de -- Ein Europäer in der DDR | |
> AUSSTELLUNG Kunst in der Diktatur: Das Berliner Kupferstichkabinett zeigt | |
> das so einzigartige wie einzelgängerische Oeuvre des Grafikers und | |
> Zeichners Gerhard Altenbourg | |
VON INGO AREND | |
„Das, was geschieht, geschieht in dir (und nur in dir), oder es wird nicht | |
sein.“ Würde man einem Anhänger von Nicolas Bourriauds „relationaler | |
Ästhetik“ dieses Künstler-Credo entgegenhalten, er würde einen sofort für | |
verrückt erklären. Für den französischen Philosophen ist Kunst soziale | |
Partizipation oder sie ist gar nicht. Und doch liefert der provokante | |
Solipsismus dieses Satzes den Schlüssel für das Werk eines der | |
unbekanntesten, aber bedeutendsten Künstler aus Deutschland. | |
Gerhard Altenbourg, von dem das verwegene Zitat stammt, trieb die gern | |
beschworene „Asozialität“ des Künstlers in ein ungekanntes Extrem. Der 19… | |
in Rödichen-Schnepfenthal als Gerhard Ströch geborene Mann, der zeit seines | |
Lebens im elterlichen Haus in der thüringischen Kleinstadt Altenburg | |
wohnte, hasste Störungen. Er mied Kontakte zur Obrigkeit und wollte nicht | |
von der Arbeit abgehalten werden. An liebsten hätte er im Winter 1969 | |
vermutlich auch den unangekündigten Besuch Solgärd und Rolf Wolters | |
verpasst. | |
## Geistiger Widerstand | |
Das schwedisch-deutsche Sammlerehepaar aus Stockholm erwarb seit dieser | |
Zeit rund 100 Zeichnungen, Aquarelle und Grafiken von dem | |
eigenbrötlerischen Mann, der sich nach seinem Wohnort nannte. Diese | |
Arbeiten bilden den Grundstock der großartigen Ausstellung „Das gezeichnete | |
Ich“, mit der das Berliner Kupferstichkabinett das Werk eines genialischen | |
Einzelgängers neu erschließt. | |
Die Schau verdankt sich dem Erwerb der kostbaren Privatsammlung durch die | |
Berliner Museen. In dem Jahr, in dem sich der Fall der Berliner Mauer und | |
die Wiedervereinigung zum 25. Mal jähren, kommt sie gleichwohl politisch | |
zur rechten Zeit. Lässt sich an Altenbourgs Oeuvre doch mustergültig | |
studieren, wie geistiger Widerstand in der Diktatur möglich war. An der | |
Jahreswende 1949/50 schuf der damals 23-Jährige die Zeichnung „Stalins | |
Geburtstag“. | |
Am Vorabend des 70. Geburtstags des sowjetischen Diktators zeichnete er | |
diesen als ebenso formloses wie furchteinflößendes Monster mit Zwiebelturm | |
auf dem Kopf und mit einer Greifenklaue statt einem Fuß. Prompt wird der | |
angehende Künstler wegen „fachlichen und gesellschaftlichen | |
Außenseitertums“ von der Weimarer Hochschule für Baukunst und bildende | |
Künste exmatrikuliert, wo er seit 1948 studiert. | |
Altenbourg zieht sich in eine, heute unvorstellbare, innere Emigration | |
zurück und bringt ein Werk hervor, welches es an Opazität, Filigranität und | |
handwerklicher Meisterschaft mit den Großen der Weltkunst auf sich nehmen | |
kann. So direkt politisch wie bei seinem Stalinbild argumentiert Altenbourg | |
nie wieder. („Unermeßliches, das herüberschaut“ oder „Bewegungen über … | |
Schweigen“ lauten Titel seiner Arbeiten.) Als Symbol seines | |
existenzialistischen Credos lässt sich eher ein Werk wie „Ecce Homo“ aus | |
dem Jahr 1950 heranziehen. Die fast zwei mal drei Meter messende | |
Kreidezeichnung eines Menschen mit hoch in die Luft erhobenen Händen sieht | |
aus wie eine Kreatur, der man die Haut bei lebendigem Leib abgezogen hat. | |
Dem mythisch überhöhten Individualismus Altenbourgs begegnet man heute | |
reserviert. Besonders an dieser frühen Arbeit lassen sich aber dessen | |
biografische Quellen ablesen: „Ich war ausgelöscht, als Individuum | |
ausgelöscht“, schrieb er in einem Romanversuch 1946, in dem er seine | |
Erlebnisse als siebzehnjähriger Soldat verarbeitete. (Das Trauma, im | |
östlichen Polen einen russischen Soldaten im Nahkampf mit dem Bajonett | |
getötet zu haben, verfolgte ihn lebenslang.) | |
Wie kaum eine andere ist die Kunst Gerhard Altenbourgs fortan Arbeit im | |
„Ich-Gestein“ – Titel einer anderen, delikaten Tusche-Arbeit aus dem Jahr | |
1966. Die subtilen Strichzeichnungen, Lithografien, Holzschnitte und | |
Radierungen stehen für die exemplarische Selbsterforschung, aber auch die | |
Selbstbehauptung des Ich – gegen Kollektivismus und Realismus. Altenbourg | |
meidet jede Mode, orientiert sich strikt am In- statt am Abbild. | |
Das charakteristische, unendlich feinnervige Liniengespinst, das er dabei | |
schuf, oft mehrfach übereinandergelegt, bewegt sich zwischen Surrealismus | |
und Art Brut, zielt auf das Überreelle, erinnert an Paul Klee und Jean | |
Dubuffet. Altenbourgs ästhetische Referenzen weisen ausgerechnet diesen | |
paradigmatischen Eremiten als einen Europäer in der DDR aus. | |
So klar die Ablehnung des Systems DDR war – eine Übersiedlung in den Westen | |
hatte der Künstler stets abgelehnt: „Im Sozialismus und im Kapitalismus | |
wird man geboren und stirbt man. Im Sterben aber ist das Ich ganz allein, | |
da hilft kein Sozialismus und kein freier Markt“, erklärt er einem Freund | |
1987. Genau so kam es: Am 30. Dezember 1989, kurz nach dem Mauerfall, starb | |
der gesellschaftsscheue Einzelgänger bei einem Autounfall. | |
■ Gerhard Altenbourg: „Das gezeichnete Ich“. Kupferstichkabinett, bis 7. | |
Juni. Katalog, Imhof Verlag, 29,95 Euro | |
31 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
INGO AREND | |
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