# taz.de -- „Euthanasie“ an Kindern bis heute ungesühnt | |
> ■ Auf den Spuren einer Krankenakte aus dem Jahr 1944: Das Kind Gebhard P. | |
> (4 Jahre) oder „Die Vernichtung lebensunwerten Lebens“ durch „Euthanasi… | |
> / Freispruch und öffentliche Entschuldigung der Hamburger | |
> „Euthanasie“–Ärzte wurde nicht revidiert / Von Annette Garbrecht und | |
> Michael Wunder | |
Am 3.7. schreibt die Ärztin Dr. Lotte A. in eine Krankenakte: „Pneumonia. | |
Röchelnde Atmung. Exitus letalis“. Mit dieser knappen Notiz wurde der Tod | |
des vierjährigen Kindes Gebhard P. vermerkt. Wer war dieses Kind? Ein | |
„Idiot“ in der Sprache der Mediziner, ein „Vollidiot“ in der Sprache des | |
Juristen, ein „geistig behindertes Kind“ in der Sprache von heute. Wir | |
wissen nicht, welches Bewußtsein dieses Kind von sich gehabt hat, ob es | |
etwas gespürt hat. Wir wissen nur: Gebhard P. ist nicht an einer einfachen | |
Lugenentzündung sondern an einer Überdosis Luminal gestorben, verabreicht | |
durch die Ärztin Lotte A. Das war 1944. „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ | |
hießen solche Morde damals. Heute sind Gebhard P. oder eine Magdalena S. | |
nur noch Krankenakten. Wir sind der Spur dieser Akten durch die Archive | |
gefolgt und dabei auf ein Stück bundesrepublikanischer Geschichte gestoßen, | |
die bis in die Gegenwart hineinreicht: Keiner der Ärzte, die in Hamburg an | |
der Kinder–“Euthanasie“ beteiligt waren, ist je verurteilt worden. Sie | |
praktizierten nach dem Krieg weiter, wurden sogar Angestellte des | |
Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Lotte A. behandelte bis Oktober letzten | |
Jahres Kinder in ihrer Hamburger Praxis. Die Entschuldigungsformel für sie | |
sowie für 17 weitere Ärzte und Ärztinnen: „Fehlendes Unrechtsbewußtsein�… | |
So attestiert von Richtern, deren ideologische Wurzeln noch tief im | |
nationalsozialistischen Sumpf steckten. Die Taten Gemordet wurde in Hamburg | |
in den Jahren 1941 bis 45 an zwei Krankenhäusern: der Heil– und | |
Pflegeanstalt Langenhorn (heute Allgemeines Krankenhaus Ochsenzoll) und dem | |
Kinderkrankenhaus Rothenburgsort (das vor einigen Jahren geschlossen | |
wurde). Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ war bereits 1939 durch den | |
Runderlaß des Reichsinnenministers eingeleitet worden, nach dem eine | |
„Meldepflicht für mißgestaltete und idiotische Kinder“ eingeführt wurde. | |
Als Tarnorganisation für die „Euthanasie“–Durchführung wurde der | |
„Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb– und | |
anlagebedingten schweren Leiden“ gegründet. Diesem Ausschuß hatten | |
Hebammen, Geburtshelfer und Ärzte Kinder bis zu drei Jahren mit „Idiotie“, | |
Mongolismus, Kleinköpfigkeit, Wasserkopf, Mißbildungen und Lähmungen jeder | |
Art zu melden. Die Meldungen wurden vom „Reichsausschuß“ an Gutachter | |
weitergegeben, die ihr Urteil fällten: zur Behandlung freigegeben oder | |
nicht. „Behandlung“ bedeutete Einweisung in eine der sogenannten | |
„Kinder–Fachabteilungen“. Dort wurden die Kinder Objekte wissenschaftlich… | |
Untersuchungen, bevor der „Reichsausschuß“ die Ermächtigung zum Töten du… | |
Medikamente gab. Den Eltern wurde vorher meist mitgeteilt, daß ein letzter, | |
allerdings risikoreicher Behandlungsversuch an den Kindern vorgenommen | |
werden sollte. Die „Behandlung“ verlief tödlich. Die Kinder– wie auch die | |
Erwachsenen–“Euthanasie“ ging auch nach dem offiziellen Stopp aufgrund von | |
Protesten vor allem von seiten der Kirchen im August 1941 weiter. Sie wurde | |
sogar erweitert: Die Altersgrenze verschob sich auf acht, dann auf zwölf | |
und schließlich auf 17 Jahre. In der Kinderfachabteilung Rothenburgsort | |
wurden in der NS–Zeit unter dem Chefarzt Dr. Bayer mindestens 56 behinderte | |
Kinder ermordet. Das hat die Staatsanwaltschaft Hamburg Ende der 40er Jahre | |
aufgrund der noch vorhandenen Akten ermittelt. Eine dieser Ärztinnen, die | |
diese Tötungen ausgeführt haben, ist Lotte A. Im Prozeß von 1948 sagt sie: | |
„Auf der Station UK lag bald nach meinem Eintritt in das Kinderkrankenhaus | |
Rothenburgsort ein idiotisches Kind. Ich sprach gelegentlich mit der Mutter | |
des Kindes und diese erklärte mir, daß sie das Kind nicht nach Hause nehmen | |
wolle. Von der Äußerung der Mutter machte ich Dr. Bayer Mitteilung, und Dr. | |
Bayer sagte mir, die Angelegenheit sei in Ordnung. Meiner Erinnerung nach | |
erklärte mir Dr. Bayer bereits bei dieser Rücksprache, daß an solchen | |
Kindern Euthanasie vorgenommen werde. Ich entsinne mich, daß Dr. Bayer mich | |
gefragt hat, ob ich bereit wäre, selbst die Sterbehilfespritze zu | |
verabfolgen oder ob ich Hemmungen hätte. Ich verneinte diese Frage“ | |
(Quelle: Staatsanwaltschaft Hamburg, 14 Js 265/48 Ermittlungsverfahren | |
gegen Bayer u.a.). 14 Kindestötungen sind Lotte A. zur Last gelegt worden, | |
die meisten hat sie gestanden. Zum Fall des Kindes Gebhard P. heißt es in | |
der Anklageschrift: „Beweismittel: eigene Einlassung / Geständnis“. | |
Verurteilt wurden jedoch weder Lotte A. noch 17 weitere mitangeklagte | |
Ärztinnen und Ärzte. Der Freispruch „Die Kammer ist nicht der Meinung, daß | |
die Vernichtung geistig völlig toter oder leerer Menschenhülsen... absolut | |
und apriori unmoralisch ist.“ Mit dieser Begründung wurde am 19.4.1949 | |
durch Beschluß des Landgerichts Hamburg das Hauptverfahren gegen die Ärzte | |
von Rothenburgsort nicht eröffnet und „außer Verfolgung“ gesetzt. Die | |
Angeklagten, so hieß es, hätten ihre Taten nicht bestritten. Diese seien | |
auch objektiv rechtswidrig, aber die Täter hätten sich in einem | |
„Verbotsirrtum“ befunden. „Sie durften glauben, die Vernichtung sei | |
freigegeben..., weil es Kinder waren, die Vollidioten waren, also geistig | |
tot.“ Und abschließend: Die „Verkürzung lebensunwerten Lebens“ könne | |
keinesfalls eine „Maßnahme genannt werden, welche den allgemeinen | |
Sittengesetzen widerstreitet.“ Die Richter Wer waren die Richter, die hier | |
in der Sprache der Nationalsozia listen (Vernichtung, lebensunwertes Leben) | |
urteilten? Dr. Enno Budde war während des Dritten Reiches Kreisleiter der | |
NSDAP Bielefeld und später Oberbürgermeister der Stadt. 1936, immerhin als | |
35jähriger, dachte der Jurist Budde im „Althannoverschen Volkskalender“ | |
über Rasse und Blut nach: „Der heutigen Generation fällt die Aufgabe zu, | |
das auf sie überkommene Bluterbe... bewußt weiterzugeben, um das deutsche | |
Schicksal in eine starke deutsche Zukunft hineinzuschleusen. Denn mit | |
uns... geht mit allem, was wir beginnen und vollenden, der | |
unerschütterliche deutsche Glaube an das deutsche Volk und an seine Kräfte | |
zu der einzigen deutschen Herrlichkeit... Daß wir heute diese Erkenntnis | |
haben, verdanken wir Adolf Hitler.“ Diesem Dr. Enno Budde verdankte 1950 | |
ein ehemaliger KZ– Häftling, der wegen antinazistischer Äußerungen | |
denunziert worden war und seine Denunzianten verklagt hatte, den Vorwurf: | |
„Warum haben Sie denn überhaupt eine Anzeige gegen ihre beiden Kameraden | |
gemacht? Das ist kein Zeichen von christlicher Nächstenliebe und | |
Barmherzigkeit.“ Einen KZ–Bewacher wiederum, der einem Mann die Zähne | |
eingeschlagen hatte, sprach Budde 1956 frei. Später war Budde übrigens bis | |
zu seiner Pensionierung Landgerichtsdirektor in Hamburg und saß von 1947 | |
bis 59 im Stiftungsrat der Alsterdorfer Anstalten. Der zweite Unterzeichner | |
des Beschlusses von 1949 war Dr. Heinrich Hallbauer, während des Zweiten | |
Weltkrieges Landgerichtsrat am Sondergericht in Prag. Auf der | |
tschechoslowakischen Kriegsverbrecherliste ist er unter der Nummer S–8/32 | |
geführt. Aus den noch erhalten gebliebenen Unterlagen des Landgerichts in | |
Prag geht hervor, daß er dort mindestens acht Todesurteile gegen | |
tschechoslowakische Bürger verhängt hat. Hallbauer war seit 1933 | |
NSDAP–Mitglied. Eine dienstliche Beurteilung von 1936 bescheinigt ihm eine | |
„hervorragende Auffassung über die Ausübung der Justiz im Sinne der | |
nationalsozialistischen Staatsauffassung“. Hatte also der Freispruch der | |
„Euthanasie“–Ärzte durch diese beiden Herren im Jahre 1949 noch eine | |
gewisse - wenn auch zynische - Logik, sind die Ereignisse von 1961 fast | |
nicht mehr zu begreifen. Der zweite Freispruch Einer, der sich mit der | |
großzügigen Entschuldigung der Ärzte nicht zufriedengeben wollte, war Prof. | |
Degkwitz, bis 1943 Arzt am Universitätskrankenhaus Eppendorf. Wegen seiner | |
Weigerung, sich an der „Euthanasie“ zu beteiligen, wurde er denunziert und | |
verhaftet. Nach 1945 beauftragten ihn die Alliierten mit dem Wiederaufbau | |
des Hamburger Gesundheitswesens. Er emigrierte Ende der 40er Jahre in die | |
USA und bemühte sich von dort aus um eine Neuaufnahme der eingestellten | |
Verfahren gegen seine Kollegen. In Hannover gelang ihm das. Im Falle zweier | |
Ärzte, die als Obergutachter des „Euthanasie“–Programms tätig waren, Ca… | |
und Wentzler, wurde das Verfahren in den 60er Jahren wieder aufgenommen, | |
allerdings 1964 erneut „außer Verfolgung“ gesetzt. Anders in Hamburg, hier | |
verhinderten die Ärztekammer und die Gesundheitsbehörde von vorneherein | |
eine Neuauflage der Anklage. In einer Erklärung der Ärztekammer von 1961 | |
wird faktisch die Argumentation des „fehlenden Unrechtsbewußtseins“ aus dem | |
Jahre 1949 übernommen. Es heißt: Die Handlungen der beschuldigten Ärzte und | |
Ärztinnen stellten „unter den damaligen Umständen keine schweren sittlichen | |
Verfehlungen im Sinne der Reichsärzteordnung“ dar. Es seien „nur“ | |
vollidiotische und schwer mißgebildete Kinder getötet worden, bei denen | |
eine Heilung nach dem Stand der Wissenschaft ausgeschlossen gewesen wäre. | |
Im übrigen wurde den betroffenen Ärzten bescheinigt, nach dem Kriege | |
„einwandfrei“ tätig gewesen zu sein. Die Gesundheitsbehörde unter Senator | |
Walter Schmedemann erklärte daraufhin, daß aus rechtlichen Gründen das | |
Verfahren gegen die Ärzte nicht neu aufgerollt werden könne. An dieser | |
Entscheidung änderten auch öffentliche Proteste von seiten der | |
sozialdemokratischen Ärzte Hamburgs, der Medizin– Studenten und des | |
„Komitee zur Wahrung demokratischer Rechte“ nichts. „Es kann unmöglich | |
allgemeingültige Anschauung oder gar geltendes Recht in der deutschen | |
Ärzteschaft werden, sittliche Grundnormen unseres Berufes als Funktionen | |
der jewei ligen politischen Zeitumstände anzusehen und deren Verletzung mit | |
eben diesen Umständen zu entschuldigen“, schrieben die sozialdemokratischen | |
Ärzte etwas verklausuliert. Unter der Überschrift „Blutrichtern muß der | |
Prozeß gemacht werden“ schreibt das Komitee zur Wahrung demokratischer | |
Rechte“: „Rechtsstaatlich und demokratisch wäre es gewesen, den belasteten | |
Nazi–Ärzten sofort die Möglichkeit zu nehmen, weiter zu praktizieren. Es | |
muß ihnen sofort ein Prozeß gemacht werden, aber nicht unter Vorsitz eines | |
Antisemiten wie Budde oder eines Blutrichters wie Hallbauer, die diese | |
Ärzte im Jahre 1959 freigesprochen haben.“ Die Folgen Der Mord an dem Kind | |
Gebhard P. wäre natürlich mit keiner Verurteilung „gesühnt“ worden. Auch | |
die überlebenden Angehörigen der 56 in Rothenburgsort getöteten Kinder | |
haben vielleicht in den wenigsten Fällen Rachegefühle gehabt, als sie nach | |
45 von der wahren Todesursache ihrer Kinder erfuhren. Aber: Nicht um die | |
Sühne oder Rache also wäre es gegangen bei einer Verurteilung der | |
„Euthanasie“–Ärzte, sondern um einen Bruch mit der mörderischen | |
faschistischen Ideologie: der der „Wertigkeit“ von Leben, von Individuen. | |
Die Gründe, warum das nicht passierte, haben wir versucht zu benennen: Sie | |
liegen in der Kontinuität nach 45, als Personen wie Budde und Hallbauer und | |
unzählige andere bruchlos anknüpften. Die Auswirkungen auf das Bewußtsein | |
können wir nur ahnen: In den Diskussionen über die Humangenetik oder die | |
„Sterbehilfe“ beispielsweise wird nach wie vor häufig ein - ökonomischer - | |
Wert–Begriff an die Stelle einer unantastbaren moralischen Kategorie | |
gesetzt. | |
14 May 1987 | |
## AUTOREN | |
A. Gabrecht / M. Wunder | |
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