# taz.de -- „Ich schlage Feueralarm“ | |
> ■ Jean Amerys „Bewältigungsversuche eines Überwältigten“ reflektie… | |
> tief verwurzelten Antisemitismus, die Unmöglichkeit, der Vergangenheit | |
> und dem Jude-Sein zu entrinnen und rebellieren gegen die Geschichte | |
Es gibt viele Unmöglichkeiten, die Verwendung nazistischer Terminologie und | |
auf die NS-Zeit bezugnehmender Metaphern zu erklären: mal wird ganz | |
nuanciert „Bildspender“ und „ -empfänger“ unterschieden, mal wird der | |
„bestimmende Genitiv“ bemüht, der ein „Verhältnis “ definiert und dam… | |
einen „Erkenntnisschock“ ermögliche. Wie verschlungen die Erklärungwege | |
auch immer sind, gemeinsam ist ihnen, daß sie die Verharmlosung des nicht | |
zu Verharmlosenden, die Instrumentalisierung des Völkermords als | |
Wortmaterial für die eigenen Attacken gegen andere, rechtfertigen sollen. | |
Gelegentlich kommt dann noch als Argument hinzu, man habe durch die Wahl | |
der Metaphern nich verharmlosen wollen, sondern im Gegenteil noch im | |
heutzutage Banalen dem Schrecken auf die Spur kommen wollen, eigentlich | |
also geradezu aufklärerisch gearbeitet. | |
Angesichts der sprachlichen und politischen Verwirrung in der aktuellen | |
Debatte, in der anscheinend alles in Frage gestellt und behauptet werden | |
darf, erweist sich die Lektüre von Jean Amerys Jenseits von Schuld und | |
Sühne als erhellend. Der gerade neu aufgelegte Essayband hat den | |
Untertitel: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Amery, der das | |
Konzentrationslager überlebt hat, reflektiert in den fünf Texten die | |
Unmöglichkeit, der Vergangenheit und dem Jude-Sein zu entrinnen. „Täglich | |
morgens kann ich beim Aufstehen von meinem Unterarm die Auschwitznummer | |
ablesen; das rührt an die letzten Wurzelverschlingungen meiner Existenz, ja | |
ich bin nicht einmal sicher, ob es nicht meine ganze Existenz ist. Dabei | |
geschieht es mir annähernd wie einst, als ich den ersten Schlag der | |
Polizeifaust zu spüren bekam. Ich verliere jeden Tag das | |
Weltvertrauen...Die Nachbarin grüßt freundlich, Bonjour, Monsieur; ich | |
ziehe den Hut, Bonjour, Madame. Aber Madame und Monsieur sind durch | |
interstellare Distanzen getrennt, denn eine Madame hat gestern weggeschaut, | |
als man einen Monsieur abführte, und ein Monsieur betrachtete Madame durch | |
die Gitterfenster des abfahrenden Wagens wie einen steinernen Engel aus | |
einem hellen und harten Himmel, der Juden für immer verschlossen ist.“ | |
Amerys unpathetische Sprache ermöglicht, sich einen Begriff von Auschwitz | |
und seinen Folgen zu machen: Seine Sache ist die Aufklärung, nicht die | |
Abklärung. „Was geschah, geschah. Aber daß es geschah, ist so einfach nicht | |
hinzunehmen. Ich rebelliere: gegen meine Vergangenheit, gegen die | |
Geschichte, gegen eine Gegenwart, die das Unbegreifliche geschichtlich | |
einfrieren läßt und es damit auf empörende Weise verfälscht. Nichts ist | |
vernarbt und was vielleicht 1964 (als Amery begonnen hat das Buch zu | |
schreiben, Anm. 0.T.) schon im Begriff stand zu heilen, das bricht als | |
infizierte Wunde wieder auf.“ Amery, der Sympathien für die linke | |
Studentenrevolte hegte, hat gerade gegen linke Geschichtslosigkeit und | |
-verdrängung, gegen den von ihm beobachteten antizionistisch verbrämten | |
Antisemitismus argumentiert. „Der Antisemitismus hat eine sehr tief | |
verankerte kollektivpsychologische, in letzter Analyse wahrscheinlich auf | |
verdrängte religiöse Sentiments und Ressentiments rückführbare | |
Infrastruktur. Er ist aktualisierbar zu jeder Stunde - und ich erschrak | |
zutiefst, war aber nicht eigentlich erstaunt, als ich erfuhr, es sei bei | |
einer Kundgebung zugunsten der Palästinenser in einer deutschen Großstadt | |
nicht nur der 'Zionismus‘ als Weltpest verdammt worden, sondern es hätten | |
die erregten jungen Antifaschisten sich deklariert durch den kraftvollen | |
Ruf: 'Tod dem jüdischen Volke.‘ Unsereins ist daran gewöhnt. Man hat | |
zusehen können, wie das Wort Fleisch ward und das fleischgewordene Wort | |
schließlich zu gehäuften Kadavern. Hier wird wieder einmal mit dem Feuer | |
gespielt, das so vielen ein Grab in den Lüften grub. Ich schlage | |
Feueralarm.“ | |
Aus Amerys Buch ließe sich mehr und mehr zitieren - nicht weil es sich wie | |
ein Kommentar zur taz-Debatte liest, sondern weil es alles das faßt, was in | |
der taz-Debatte so bemerkenswert unausgesprochen bleibt: Auschwitz, die | |
Gaskammern, die „Endlösung“ - nicht als „Bildspender“, sondern als Tat… | |
Auschwitz, das von den Deutschen erdacht und betrieben, das aber auch von | |
niemandem verhindert wurde. „Die Welt war einverstanden mit dem Platz, den | |
die Deutschen uns zugewiesen hatten, die kleine Welt im Lager und die große | |
draußen, die nur in seltenen und heroischen Einzelfällen sich protestierend | |
erhob, wenn man uns in Wien oder Berlin, in Amsterdam, Paris oder Brüssel | |
nachts aus den Wohnungen holte. Dem Entwürdigungsprozeß gegen uns Juden, | |
der mit der Verkündigung der Nürnberger Gesetze anhub und in direkter | |
Konsequenz bis nach Treblinka führte, entsprach auf unserer, meiner Seite | |
ein symmetrischer Prozeß um Wiedergewinn der Würde. Er ist bis heute für | |
mich nicht abgeschlossen...Ich gehe als Jude durch die Welt gleich einem | |
Kranken mit einer jener Leiden, die keine große Beschwerde verursachen, | |
aber mit Sicherheit letal ausgehen...Ich habe die Mörder von einst und die | |
potentiellen Aggressoren von morgen nicht hinzureißen vermocht in die | |
moralische Wahrheit ihrer Untaten, weil mir die Welt in ihrer Totalität | |
dabei nicht half. So bin ich allein, wie einstens unter der Folter. Die um | |
mich sind, erscheinen mir nicht als Gegen-Menschen wie damals die Peiniger. | |
Sie sind Neben-Menschen, nicht betroffen von mir und der mir zur Seite | |
schleichenden Gefahr.“ | |
Oliver Tolmein | |
Jean Amery, Jenseits von Schuld und Sühne, dtv, 122 Seiten, 8.80 DM | |
21 Nov 1988 | |
## AUTOREN | |
oliver tolmein | |
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