# taz.de -- Ein Stück Berliner Geschichte | |
> ■ Uraufführung im Berliner GRIPS-Theater: „Ab heute heißt Du Sara“ | |
Klaus Hartung | |
Ein langes Stück, aber nie zu lang. Der Ausgang ist bekannt, dennoch sehnt | |
man ihn herbei und ist süchtig nach jeder Szene, die die Beschleunigung zum | |
Ende verzögert. Grundlage des neuen Grips-Theaterstücks Ab heute heißt du | |
Sara ist Realgeschichte: Inge Deutschkrons Autobiographie Ich trug den | |
gelben Stern. Es ist die Geschichte eines Mädchens aus sozialdemokratischen | |
Hause, erzogen zum aufrechten Gang und zum klaren Denken, deren Kindheit, | |
Pubertät, Jugend und Reife zugleich auch die Geschichte von Bedrohung, | |
Gettoisierung, von Zwangsarbeit, Deportationsangst und Illegalität ist. Die | |
zehnjährige Inge muß 1933 mit einem Schlag lernen, daß sie Jüdin ist, daß | |
ihre Lebensrechte Woche für Woche, von einer Verordnung zur nächsten, | |
gestrichen werden: vom Spielen mit anderen Kindern, vom Radiohören, | |
Kinogehen bis hin zur Unterwerfung unter den Namen Sara und dem Anheften | |
des gelben Sterns. | |
Es ist die Geschichte eines aufrechten Ganges in einer Zeit, in der | |
Menschen auf eine bislang unbekannte Weise gebrochen wurden. Über der | |
Uraufführung lag ein Schimmer wirklicher Versöhnung, als die Darstellerin | |
der Inge, die widerspenstige, fordernde Nina Lorck-Schierning, und die | |
wirkliche Inge Deutschkron sich auf der Bühne umarmten. Nina, ganz | |
flapsige, provozierende Heroine des alternativen Berlins hatte gegen die | |
Geschichte, gegen den Opfergang angespielt, so wie Inge Deutschkron im | |
Überleben dagegen angelebt hatte. | |
In 33 Bildern haben Volker Ludwig und Detlef Michel Inge Deutschkrons | |
Autobiographie übersetzt. 33 Bilder und Songs. Keine Bebilderung, auch kein | |
Stationendrama. Es sind präzise, emblematisch herausgearbeitete | |
Alltagsszenen. Der Alltag zwischen Jägern und Gejagten. Das ist eine | |
Leistung des Stückes - es zeigt, daß es diesen Alltag gab und mithin die | |
alltäglich Verantwortung. Es zerschlägt das Täter/Opfer Schema und | |
vermeidet auch die Betroffenheitsfalle. Die Juden sind keine anonyme | |
Quantität, die zur Vernichtung ausersehen sind. Die „geflitzten Juden“, die | |
Illegalen kauern auch nicht hinter dem Schrank. Sie sind Teil eines | |
Großstadtlebens, in der die alltäglichen Beziehungen unter den Menschen zum | |
Minenfeld wurden. So macht das Stück eine Frage diskussionsfähig: nicht die | |
Frage, wie konnte das geschehen, sondern die viel unheimlichere Frage, wie | |
konnten das Menschen mit sich geschehen lassen? Ein Song beantwortet | |
vorläufig diese Frage: „Und wenn unsere Kinder mal fragen / wie konntet ihr | |
das nur ertragen / dann können wir ihnen nur sagen / wir hatten uns daran | |
gewöhnt.“ Das Stück beantwortet diese Frage etwas anders: gerade die | |
Menschlichkeit, die den Tätern nicht alles zutraute, vor allem nicht, daß | |
sie, was sie sagten, buchstäblich so meinten. | |
Das Bühnenbild: Fenster ohne Ausblick und die Realien erst die einer | |
gutbürgerlichen Wohnung, dann die Zeichen der Deklassierung, bis am Schluß | |
nur der Koffer übrig bleibt. Auf einer kleinen Leinwand schreibt eine Hand | |
die Stationen des Tagebuchs nieder: Uhlandstraße, Pariserstraße, | |
Bambergerstraße, Droysenstraße - die Odyssee durch die Berliner Innenstadt. | |
Beklemmende Szenen aus dem Alltag der Verfolgung - immer balanciert durch | |
Präzision. Beim gemütlichen Fotographen muß Inge Deutschkron das linke Ohr, | |
das „semitische Ohr“ freimachen. „Den Satz werden sie noch oft in ihrem | |
Leben hören.“ Oder die Ariseure, die über einen Teil der Lebensgeschichte | |
der Deutschkrons herfallen: „Ick nehem ihren Krempel komplett, ham wa't | |
hinter uns und det Jeld für die Reichsfluchtsteuer und die Fahrkarten hamse | |
dreimal raus“, sagt der Spediteur. „Wir sind immer anständig jeblieben bei | |
die Arisierung.“ In solchen Szenen wird sprachlose Ohnmacht und | |
volkstümliche Brutalität mit einer slap-stick-artigen Genauigkeit | |
verknüpft. Überhaupt schützt die handwerkliche Kultur, die | |
Kabarettvergangenheit des Grips-Ensembles vor bequemer Tragik. Auch die | |
politischen Sympathien der Autoren werden mit fast altmodischer Offenheit | |
formuliert: doch sie sind der Rahmen der Wahrnehmung. Eine Szene in der | |
S-Bahn, innerer Monolog: die Mitfahrer sagen das Ihre über die stehende | |
Jüdin mit dem gelben Stern. Ein deutscher Idealist will ein Zeichen des | |
Protestes setzen und bietet ihr seinen Platz an. Er bringt sie damit in | |
höchste Schwierigkeiten - als Idealist hat er keine Ahnung. Der Proletarier | |
denkt praktischer und will ihr Brot zustecken. Aber: er verpaßt den Moment | |
und frißt dann verdrossen die Stulle selbst. | |
Bekanntlich ist das Gripstheater ein Jugendtheater. Es glaubt auf eine fast | |
zeitlose Weise an das Gute im Menschen und an die Pflicht zur Aufklärung. | |
Es formuliert keine Message, sondern eine Lehre. Da sind die Songs, der | |
„Männerchor“ der Sozialdemokratie („Das Vaterland in Mörderhand, das ist | |
und bleibt unmöglich“), das Lied der Deutschen, der „Spitzelsong“, das | |
„Lied vom Chaos“ („Es lebe das Chaos, der Untergang der Macht“) - gute, | |
zugreifende Texte. Besonders rührend, das „zeitlose Lied“, eine Art | |
theoretischer Selbstreflexion der Autoren, ein Lied gegen das linke | |
Krisentheorem: „Wenn die Armut überhand nimmt“, rebellieren eben nicht die | |
Massen. Vielmehr: „Es ist das alte Lied / wenn der Wind sich dreht: / | |
Rückwärts -und ganz vergessen - worin unsere Stärke besteht.“ | |
Dieses politische Engagement verführt, ganz selten allerdings, zur | |
Aktualisierung. So verweisen die Autoren überflüssigerweise - auf | |
Asylanten. Deutlicher ist das Problem mit den „guten Deutschen“, die | |
logischerweise vermehrt auftreten, denn sonst hätten die Deutschkrons nicht | |
überleben können. Da ist das alte Gewerkschafterehepaar, die Bibelforscher | |
Gumz, Ostrowskis, der sozialdemokratische Funktionär, der in einer etwas | |
ungerechten Komik seit 1933 dem Hitlerregime kontinuierlich nur drei Monate | |
gibt. Ihm wird verübelt, daß er gegen Kriegsende sich zu höheren Aufgaben | |
für das „neue Deutschland“ sich berufen sieht und die Deutschkrons | |
entsprechend als Gefahr. Der wirklich positive Held ist allerdings Otto | |
Weidt, Chef der Blindenwerkstatt. Er sprengt den Lehrgestus vollends. Eine | |
Spielernatur, ein Schieber, der durch Korruption und Schiebereien mit der | |
Gestapo seine jüdischen Blinden und auch Inge schützt. Einmal gelingt es | |
ihm sogar noch, „seine“ Blinden vor der Deportation zu retten, sie aus dem | |
Sammellager in der „Großen Hamburger“ zu retten. Er lebt auf großen Fuß … | |
dem Tod, bis dann die „Wiener“ Gestapo Berlin endgültig „judenfrei“ ma… | |
Die Ambivalenz dieser Figur durchbricht die Szenenfolge. Und als dann die | |
totenstillen Zuschauer gegen Ende noch erfahren, wie es ihm gelungen ist, | |
seine Geliebte Ali aus Auschwitz zu befreien, hat die Realgeschichte längst | |
die Handlung übernommen. Hier liegt der wirkliche Erfolg des Stückes: es | |
macht Platz für das wirklichen Geschehen. Es befreit die einzige Kraft | |
gegen Verdrängung: die Neugier. | |
Das politische Lehrstück führt zur Geschichte und mithin zum heikelsten | |
Teil - wo man sich fragen muß, ob es schon die Zeit gibt, in der das | |
darstellbar ist: die Komplizenschaft der Opfer. Die jüdische Gemeinde mußte | |
die Deportationslisten zusammenstellen, mußte sie zugleich vor den Opfern | |
geheimhalten. Die Verwalter der Gemeinde waren Teil der Todesbürokratie, | |
bei Todestrafe zum Stillschweigen verpflichtet - aber schweigend auch aus | |
Menschlichkeit. Schließlich wurden sie selbst deportiert. Wer von der | |
Deportationsliste gestrichen wurde, veurteilte jemand anderes zum Tode. Die | |
Figur Hans Rosenthal, Freund der Inge, Schieber, immer informiert, | |
repräsentiert diese Komplizenschaft. Lebensfreude und Todesbotschaft sind | |
in ihm verschmolzen. Das Stück thematisiert dies, aber es bleibt ein Rind | |
von Schweigen darum. Wie könnte es auch anders sein. | |
Großer, langer Beifall am Schluß. Dankbarkeit geradezu gegenüber den | |
Schauspielern, die in verschiedenen Rollen aus sichtbarer Betroffenheit | |
sich zur Spiellust steigerten. Aber auch unverhohlener Szenenbeifall über | |
die kleinen Triumpfe des Überlebens der Inge Deutschkron. Ein Stück | |
Berliner Geschichte wurde zurückerstattet. | |
Klaus Hartung | |
Volker Ludwig und Detlef Michel: Ab heute heißt Du Sara, nach dem | |
autobiographischen Bericht Ich trug den gelben Stern von Inge Deutschkron, | |
Musik: Hansgeorg Koch, Regie: Uwe Jens Jensen, Bühnenbild: Mathias | |
Fischer-Dieskau, Kostüme: Yoshio Yabara, Musikalische Leitung und | |
Arrangements: Matthias Witting, Choreographie: Neva Howard. | |
Es spielen: Thomas Ahrens, Claudia Balko, Claus-Peter Damitz, Michaela | |
Hanser, Rene Hofschneider, Hansi Jochmann, Dieter Landuris, Dietrich | |
Lehmann, Nina Lorck-Scherning, Hanna Petkoff, Renate Reiche, Christian | |
Veit. | |
18 Feb 1989 | |
## AUTOREN | |
klaus hartung | |
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