# taz.de -- Ein deutscher Kanzler in der Kohlonie | |
> Wahlkampf in Erfurt: Kanzler Kohl zu den Klängen vom Jäger aus Kurpfalz | |
> durch die gläubige Menge / Das Netz der sozialen Sicherheit werde ein | |
> „deutsches Netz“ sein / Kohl schwebt über dem Platz: mitten in | |
> Deutschland, mitten in Europa ■ Aus Erfurt Ch. Wiedemann | |
„Was soll denn der denken? Ihr beleidigt doch diesen Mann!“ Zorn steht dem | |
älteren Erfurter im Gesicht geschrieben, als er die beiden jungen Leute am | |
Rande des Domplatzes zur Rede stellt. Helmut Kohl kommt, der Kanzler, und | |
diese beiden da tragen DDR-Fahnen zur Kundgebung. Was soll denn der denken? | |
Wer den Kanzler beleidigt, ist ein Roter, und Rote „gehören raus“. Immer | |
wieder brandet dieser Schrei über den Domplatz, lange bevor er kommt. Die | |
Roten, das ist ein Häuflein von Gegendemonstranten mit eher anarchistisch | |
angehauchtem Outfit. „Schnurstracks in die Kohlonie“ steht auf einem | |
Transparent, auf einem anderen ganz verwegen: „Kommt Kohl, kommt Rat, kommt | |
Attentat“. | |
Wie wohl muß da erst dem Kanzler sein, da er sich nun, zu den Klängen vom | |
Jäger aus Kurpfalz, den Weg durch diese gläubige Menge bahnen läßt. Vor | |
zwei Jahren ist er mit Hannelore über diesen Platz geschlendert; nie hätte | |
er sich da träumen lassen, daß hier, „mitten in Thüringen, mitten in | |
Deutschland, mitten in Europa“ hunderttausend ihm nun eine „geschichtliche | |
Stunde“ schenken: „Helmut, Helmut!“ Und dort auf dem Transparent, das nun | |
vor der Rednertribüne hochgezogen wird, steht es ja, was zu Hause manche | |
noch immer nicht glauben wollen: „Gott schütze unseren Kanzler den | |
Wegbereiter der Einheit“. In diesem Erfurt, das vor genau zwanzig Jahren | |
und vor kurzem noch einmal Willy Brandt zujubelte, genießt nun er seinen | |
Triumph. | |
Seine Vorredner vom konservativen Bündnis „Allianz für Deutschland“ weben | |
ihm einen roten Teppich aus Huldigungen. So wie es Wolfgang Schnur, der | |
Vorsitzende des Demokratischen Aufbruchs, sagt, muß es gewesen sein: Kohl | |
und dessen Partei hätten verhindert, „daß wir weiter eingemauert bleiben“. | |
Uneigennützig habe Kohl in den schwersten Stunden geholfen - „Helmut, | |
Helmut!“ Eine Majestätsbeleidigung getraut sich da niemand mehr. | |
Der deutsche Kanzler tritt hier auf, und dieser wirbt auf seiner bewährten | |
Linie um Stimmen für die konservative „Allianz“: Allgemeine Versprechungen, | |
vage bleiben, Ängste beschwichtigen. Das Netz der sozialen Sicherheit werde | |
ein „deutsches Netz“ sein; „Liebe, Zuneigung und Respekt“ gebühre den | |
Alten, die um ihre Renten nicht bangen müßten. Eine | |
Arbeitslosenversicherung werde man aufbauen, weil „gelegentlich“ einige | |
Betriebe schließen müßten. Und jenen, die nun um ihr Erspartes fürchten, | |
kann er zwar „noch keine verbindliche Antwort“ geben, aber sein Wort: „Wir | |
haben gegenüber den Sparern eine besondere soziale Verpflichtung, die ich | |
nicht vergessen werde.“ | |
Ergeben nimmt die Menge auf, daß ihnen der Kanzler nichts mitgebracht hat, | |
keine Botschaft von konkreter Hilfe, wie sie auf diesem Platz doch manche | |
wohl erwartet hatten. Ganz besonders brandet der Beifall sogar auf, als | |
Kohl begründet, warum er Modrow die Soforthilfe verweigerte. Es ist ein | |
gestrenger Kanzler, der das Volk auf dem steinigen Weg der Marktwirt schaft | |
ins gelobte Land führen wird. | |
Und während sich der frühlingshafte Abendhimmel über dem Domplatz | |
verdunkelt, saugt die Menge die Verheißung auf: Ein „blühendes Gemeinwesen�… | |
wird dieses Erfurt werden, ein „blühendes Land“ dieses Thüringen, wenn er… | |
die Tausende investitionsbereiter Unternehmer kommen, von denen der Kanzler | |
kündet. Zum europäischen Binnenmarkt, dem „stärksten Wirtschaftsraum der | |
Erde“, wird Erfurt dann gehören, und von deutschem Boden wird Frieden | |
ausgehen, wenn die Erfurter so europäisch werden „wie die Pfälzer“. | |
So ähnlich malen zwar auch die Sozialdemokraten ihre Verheißung; kaum | |
unterscheiden sich die Plakatparolen an den Erfurter Häusern. Aber diese | |
Leute verstehen eben „nichts von den großen Fragen, die jetzt in einem | |
geschichtlichen Zusammenhang für alle erkennbar sind“. Für die Geschichte | |
ist nur er, der Kanzler, zuständig, gerade noch in Moskau und Paris, und | |
nur mit ihm haben die Deutschen „die Chance, am Ende dieses oft schlimmen | |
Jahrhunderts Gutes zu tun“: „Es lebe unser deutsches Vaterland.“ | |
Ergriffen von seiner eigenen Rolle stehen Kohl die Tränen in den Augen, als | |
er sich mit den drei Matadoren der „Allianz“ zum Schlußjubel für die | |
Fotografen aufbaut. Ließe es seine Leibesfülle zu, er würde über diesen | |
Platz, diese Menge schweben, mitten in Deutschland, mitten in Europa. Doch | |
auch auf Erden, im Speiserestaurant „Hohe Lilie“ läßt ihm die Geschichte | |
keine Ruhe. Hunderte begeisterter Anhänger verlangen ihn ans Fenster, wie | |
einstmals den Willy Brandt im „Erfurter Hof“. Huldvoll winkt der Kanzler | |
mit dicker Hand hinab. Unten auf der Straße kräht ein zahnloser Alter mit | |
verzücktem Blick: „Helmut, wir danken dir!“ Immer wie der: „Helmut, wir | |
danken dir.“ | |
22 Feb 1990 | |
## AUTOREN | |
ch.wiedemann | |
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