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# taz.de -- Jesu Mundgeruch
> Über David Lynchs „Wild at Heart“  ■ Von Thierry Chervel
Es gibt diesen angenehmen Moment der Blindheit im Kino, unmittelbar nachdem
das Saallicht heruntergedimmt wurde. Notausgangleuchten erinnern noch kurz
ans Leben, dann eröffnet das erste Bild des Films ein neue Perspekive. Vier
Meter hoch ist der Kopf auf der Riesenleinwand. Tosend fängt er Feuer. Das
inzwischen schon berühmte Streichholz — in einer Rothhändle-Reklame, die
Lynch bestimmt nicht kennt, gab es ein ähnliches — wirft nicht nur ein
Licht auf die Vergangenheit von Lula und Sailor, die in Rückblenden
herbeigeholt wird, sobald sie sich nach dem Sex eine Zigarette anstecken.
Es weist als Signal weit übers Kinos selbst hinaus: Lynch möchte damit die
Leinwand in Brand setzen. Er zweifelt am Schein und vermutet überall
Geheimnisse. Er will die Leinwand durchlässig machen für das, was hinter
den Bildern steckt und sucht Bilder, die etwas davon zeigen.
„Fleisch und Haare“, sagt Lynch. In einem Interview mit dem 'Rolling Stone�…
äußert er sich über die „traumatischen Schrecken“ seiner Kindheit. Es mu…
damals schon ein Haushalt gewesen sein, wo es Feuer in seiner
ursprünglichen Form nicht mehr gab, weil selbst die Weihnachtsbaumkerzen
elektrisch sind. Lynchs Eltern rauchten und tranken nicht und hatten nie
Streit, und David schämte sich dafür. „Es war in den Fünzigern. Damals gab
es solche Anzeigen in den Illustrierten, wo eine hübsche, adrett gekleidete
Frau einen Pudding aus dem Herd zog und dabei ein gewisses Lächeln
aufsetzte.“ Da — so muß es das sensible, heimlich illustriertenlesende,
mittelständische Einzelkind empfunden haben — stank etwas zum Himmel. Aber
es war nicht zu riechen!
Zu den raffiniertesten Gemeinheiten in Wild at Heart gehört, daß die
vielleicht böseste Ausgeburt des Bösen, Bobby Peru, von Willem Dafoe
dargestellt wird, der gerade noch bei Scorsese den Jesus spielte. So gibt
es bereits ein Bild vor dem Bild, ohne daß man Lynch etwas nachweisen
könnte, eine Oberfläche, die nur ein bißchen gelüpft zu werden braucht, und
schon weht uns ein Pesthauch an.
## Hinter den Bildern sind nicht einfach Bilder, sondern Gerüche,
Flüssigkeiten, körperlicher Zugriff
Das ist jetzt ganz wörtlich zu nehmen: Bobby Peru trägt nicht nur Pomade im
Haar und ein Menjou-Bärtchen, sondern auch zwei Reihen spitzer,
gelblich-brauner, vor der Zeit verfaulter Zahnstummel. Der ehemalige Jesus
hat Mundgeruch. In einer der prekärsten und suggestivsten Szenen des Films
— Vergewaltigung oder Verführung — setzt er ihn auch ein. Sailor (Nicolas
Cage) und Lula (Laura Dern) sind vor den Verfolgungen von Lulas Mutter
genau in das texanische Nest geflohen, wo die Falle für sie längst bereits
steht. Sie wohnen in einem elenden Motel. Es ist morgens, aber schon sehr
heiß, und es stinkt. Lula hat gerade festgestellt, daß sie schwanger ist —
am Abend zuvor hat sie auf den Teppich gekotzt. Die beiden wollen
weiterfahren. Sailor muß nur noch den Wagen auftanken. Lula ist allein im
Motelzimmer. Bobby Peru zieht sie ganz nah zu sich heran. „Fuck me, fuck
me, fuck me“, flüstert ihr der schwer Atmende ins Gesicht, immer wieder —
dabei schürzt er die Oberlippe und bleckt die faulen Zähnchen —, bis sie es
ihm, halb ohnmächtig, nachspricht.
Hinter den Bildern sind also nicht einfach Bilder, sondern Gerüche,
Konsistenzen, Flüssigkeiten, Miasmen, körperlicher Zugriff. Dafür möchte
Lynch die Leinwand abbrennen, um es in den Saal zu lassen — all das, wovor
mittelständische Seelenhygiene so tiefen Abscheu hegt und wovon Bilder
notgedrungen abstrahieren. Bei Isabella Rossellini sind es Haare im
Gesicht. Diesem offiziellen Topmodell der Schönheit mit Exklusiv-Vertrag
bei Lancôme — gerade leuchtet sie wieder vom 'Harper's Bazaar‘-Cover herab
— sind offensichtlich ein paar wuchernde Augenbrauen implantiert worden,
die selbst über der Nasenwurzel eine Brücke bilden würden, wenn sie nicht —
ein schwarzer Schatten deutet darauf hin — an dieser Stelle rasiert wären.
## Eine Verschiebung wie im Traum
Es sind keine Masken wie in Dick Tracy, die die Gesichter zur
Unkenntlichkeit entstellen. Zu Irritationen werden Bobby Peru und seine
Gespielin Perdita Durrango nur, weil der ehemalige Jesus und die
Reklameschönheit von Lancôme erkennbar bleiben. Es ist eine Verschiebung
wie im Traum. Die Überlagerung der Bilder, der kleine Schock, den sie
bewirkt, wäre nicht möglich ohne eine darunter liegende Kontinuität.
In der Kontinuität ist Lynchs Kunst zu vermuten. Sie macht erst, wie einst
bei Bunuel, daß man ihm seine Absurditäten glaubt. Das Geklitterte, den
Taumel der Bilder aus Rückblenden, rätselhaften Episoden, Wiederholungen,
grausigen Begebenheiten am Wegesrand und Gesichten nimmt man dem Film nur
ab, weil er es von Anfang an schafft, einen in den Erzählstrom zu ziehen.
Es hat etwas mit der einfachen Grundkonstruktion als Road Movie zu tun, ist
aber wohl im wesentlichen eine Sache des Rhythmus, der im engeren und
weiteren Verständnis musikalischen Qualitäten des Films. Daß man selbst die
gröbsten möglichen Unterbrechungen der Kontinuität, die drastischen,
detailgenau und realistisch ausgemalten Gewaltszenen so unbekümmert
akzeptiert, liegt am angenehmen, immer tragenden Sog des Films.
Musik setzt Lynch im klassischen Sinn als Bindemittel ein: Sehr oft beginnt
die Musik zu einer nächsten Szene schon in der gerade laufenden. Vielleicht
ist so erklärlich, warum Lynch soviele verschiedene Musiken benutzt: Jazz,
Heavy Metal, Country Rock, Blues, Richard Strauss. Die Auswahl hängt ab von
der Richtung, in der Lynch seine Zuschauer manipulieren will. So wie die
Musik dabei die Schnittstellen zwischen den Szenen kittet, findet der
Wechsel zwischen zwei verschiedenen Musikarten oft innerhalb der Szenen
statt wie zum Beispiel in der Totschlagszene zu Beginn des Films, wo die
„reale“ Musik von Glenn Miller scharf überblendet wird von der
„dramatischen“ Filmmusik, bis diese sich wiederum nach vollzogener Tat
zugunsten der ersten verabschiedet.
Aus dem Film wird so eine Art Märchenoper. Wie ein Märchen, wo der raunende
Erzählton der am Bett vorlesenden Mutter eine vielleicht trügerische
Sicherheit gibt — was ist, wenn die Mutter verschwindet? —, kann er sich
die exzessivste Gewalt erlauben: Die Musik hört nicht auf. Die Dialoge, die
auf die Musik gesprochen werden — gerade die der beiden Liebenden —,
klingen oft geradezu gesungen, also melodramatisch. Das nimmt ihnen ihre
Zufälligkeit und gibt ihnen etwas Vorgezeichnetes, Wiederholbares, etwas
von ritueller Handlung.
## Wie die „Zauberflöte“: ein Schritt aus trügerischer Sicherheit ins Leb…
Tatsächlich durchschreiten Lula und Sailor den Film ein bißchen wie Pamina
und Tamino die Feuer-und- Wasser-Probe des Prüfungstempels in Mozarts
Zauberflöte. Eine schützende Macht hält dabei ihre Hände über die beiden,
manifestiert sich aber erst im letzten Moment der Verzweiflung als
knallbunte gute Fee in schillernder Seifenblase: als Macht der eigenen
Fantasie gegen die Macht der Bilder, die von anderer Seite — nämlich der
Mutter — aufgedrängt werden.
Es ist ein Schritt aus trügerischer Sicherheit ins Leben. Wie die
Zauberflöte erzählt Wild at Heart die Geschichte der Lösung von der Mutter
des Mädchens. Marietta Fortune (Diane Ladd) ist Zentrum und Ursprung alles
Bösen im Film. Sie ist auf beide zugleich eifersüchtig: auf Lula, weil sie
gern selbst mit Sailor schlafen würde, und auf Sailor, weil er ihr Lula
nimmt. Sie zersprengt in hyterischen Konvulsionen, die allerdings anders
als in der Zauberflöte nicht zu Koloraturarien führen, Likörgläser in ihrer
Hand. Sie bemalt sich ihr ganzes Gesicht mit Lippenstift und starrt als
böser roter Ballon in den Spiegel. Sie reitet als Brockenhexe neben Lula
und Sailor her. Sie hetzt die Killer auf Sailor und hält ihre Netze bis ins
letzte Nest von Texas gespannt. Auf ihr Geheiß wurde einst ein Streichholz
entzündet und Lulas Vater in Brand gesetzt. Dieser Mutter muß Lula erst
adieu sagen.
Die Frage ist am Ende also nur, ob Lula und Sailor aufhören werden zu
rauchen und zu trinken und sich nie wieder streiten.
Wild at Heart“, von David Lynch. Nach einem Buch von Barry Gifford. Kamera:
Fred Elmes, Musik: Angelo Badalamenti. Mit Nicolas Cage, Laura Dern, Willem
Dafoe, Crispin Glover, Diane Ladd, Isabella Rossellini, Harry Dean Stanton.
USA 1990. 127 Min.
20 Sep 1990
## AUTOREN
thierry chervel
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