# taz.de -- Vom Ende einer Empfindung | |
> Totale Fenster positivistischer Welterfahrung: Panorama und Diorama – | |
> eine Ausstellung in Bonn ■ Von Ulf Erdmann Ziegler | |
Eine Enttäuschung für das Kindliche im Gemüt: In der Bonner Ausstellung | |
gibt es nicht jenes phantastische Riesenrund, von dessen zentraler | |
Plattform aus man herabschauen könnte in eine Landschaft oder auf eine | |
Stadt, von echten falschen Büschen im Vordergrund geschickt getäuscht über | |
die Gegenwart der Dinge; wo man stehen könnte und staunen, wie der Himmel | |
langsam dunkel wird und die warmen Lichter im Inneren gemalter Häuser | |
angehen, und der Mond erglüht über dem Horizont, dessen Licht – durch | |
raffinierte zickzackförmige Manipulationen an der Rückseite der Leinwand – | |
sich im Wasser spiegelt ... | |
Der Zauber, um den es geht, muß aus den einzelnen Elementen der Ausstellung | |
rekonstruiert werden. Es gibt schon eine (einzige) Rotunde mit erhöhter | |
Plattform: Aber das Panorama des antiken Roms, vom Kapitolshügel aus | |
gesehen, ist leider nur ein Papierbild aus mehreren Teilen, das, mit Hilfe | |
des Computers, von einem Gemälde gezogen wurde, das Yadegar Asisi in Berlin | |
im Laufe des letzten Jahres gemalt hat. Vorlage der (nun farbigen) Szenerie | |
ist ein schwarzweißer Fotodruck aus der Souvenirbroschüre des in München | |
1888 erstmals gezeigten Panoramas. Mit verlorenen Rufen und Pferdegetrappel | |
– über Lautsprecher an der Rückseite der panoramaartigen Plakatwand – hat | |
man versucht, die Illusion des antiken Roms „mit dem Einzug Constantins im | |
Jahre CCCXII“ zu beleben. | |
In der benachbarten Rotunde werden verschiedene europäische Panoramen des | |
letzten Jahrhunderts als Reproduktionen über eine sechzehnteilige | |
Diaprojektion in einen Schirm von 360 Grad geworfen: Allein, daß man die | |
Projektionsrotunde auf Bodenhöhe betritt und dann hinaufschaut, | |
widerspricht der damals angestrebten Illusion, die immer auf den perfekten | |
Standort, den der Aussicht, abgestellt war. So verharren die aufwendigsten | |
Konstruktionen von „Sehsucht – Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. | |
Jahrhunderts“ in einem Kompromiß zwischen Information und Suggestion, der | |
eine gewisse Schalheit zurückläßt. | |
## Ausgestorben wie Saurier | |
Es hat etwas von einem Akt des Mitleids, wenn wir uns zurückwenden zum 19. | |
Jahrhundert, als man unter dem Gestank der Kohlewolken umstieg vom | |
schnaubenden Pferd auf die stampfende Eisenbahn, um staunend zu erleben, | |
wie das Bild der Landschaft als offener Höhle widerstandslos gelöscht wurde | |
zugunsten eines Bands, in dem die Bilder – aus der Ruhe des schauenden | |
Körpers heraus aufgesogen – sich aneinanderreihten, ohne spürbaren | |
Übergang, ohne Mitte und ohne Rahmen. | |
Das „Panorama“, eine Erfindung des ausgehenden 18. Jahrhunderts, hat den | |
entgrenzten Blick allerdings nicht nachgeschaffen, sondern antizipiert. | |
Dennoch hat sich der Name des irischen Erfinders Robert Barker, der sein | |
Panorama 1787 zum Patent anmeldete, nicht eingegraben ins kollektive | |
Gedächtnis des Technischen. Seine Erfindung hatte nicht viel mehr als ein | |
Jahrhundert vor sich. Die Panoramen sind ausgestorben wie die Saurier. Weil | |
die Bilder, die es brauchte, mit enormem Aufwand handgefertigte Unikate | |
waren und gleichzeitig, wollte man sie sehen, als innere Wand eines | |
Rundbaus an schweren Gerüsten aufgehängt und mit Gewichten gespannt werden | |
mußten, sind von den gigantischen Unternehmungen nicht mehr als ein paar | |
Rollen übrig, die an entlegenen Stellen gehortet werden, als wären sie | |
zerbrechliche Riesenpolaroids aus Lascaux. | |
Inspiziert man die bescheideneren erhaltenen Apparate und Quellen, stellt | |
sich schon eine Ahnung ein von den Möglichkeiten einer Industrie, die im | |
Herstellungsbereich noch Handwerk war, im Vertrieb bereits industriell. | |
Gleich im Eingang wird gezeigt, wie die haushohen Leinwände von auf | |
Schienen beweglichen Holzgerüsten aus bemalt wurden; und eine wunderbare | |
Aquarellzeichnung von Jakob Gosschalk aus dem Niederländischen | |
Architekturinstitut in Rotterdam zeigt einen Kuppelsaal gleichzeitig in | |
Ansicht und als Bauskizze: ein antikisierter Dom, in dessen erhobener Mitte | |
die Schauenden das fensterlose Rund als Kosmos, als offenen Raum erleben | |
sollen, geborgen unter einer Kuppel, die die anmaßende Illusion wie ein | |
Firmament zusammenhält. Ein baulich konstruierter Rückfall zur Vorstellung | |
der Erde als Scheibe, deren Sinnzentrum im Inneren eines „totalen Fensters“ | |
situiert ist. | |
Auf dem Entwurf (von 1877) ist dem Kuppelgebäude ein Anbau angefügt, der | |
ein Diorama beherbergen soll: ein teiltransparentes Gemälde, wie es J.L.M. | |
Daguerre mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor erfunden und raffiniert | |
entwickelt hatte. Welche Suggestion ein Diorama entfaltet haben mag, ist | |
noch zu ahnen am „Diorama von Rom – Bühnenprospekt zu Christian Dietrich | |
Grabbes ,Don Juan und Faust‘“, einem sechs Meter breiten Exemplar der | |
Gattung, das die Staatlichen Museen im thüringischen Meiningen nach Bonn | |
entliehen haben. Es ist beeindruckend, wie die antike Stadt Rom, über der | |
eine dunkle Wolke aufgezogen ist, mit einem Kunstgriff in der Lichtregie | |
umgeschaltet wird auf dramatisch abendliche Stimmung. Einen solchen | |
Szenenwechsel kann man sich vorstellen; wie vor einem solchen Bild | |
überzeugend gespielt werden kann, schon schwerer. | |
## Kanonisierung des Blicks | |
Aber das Publikum von Dioramen und Panoramen interessierte sich ohnehin | |
nicht für das Szenische, sondern für die Szenerie. Panoramen schulten einen | |
bestimmten, paradoxerweise starren, Sinn für Geschichte: die Geschichte der | |
Nationalstaaten, Kolonien und Expeditionen; die der Schlachten und der | |
Legenden um die Monarchen. Eine Geschichte zu erzählen, wäre demgegenüber | |
schon wieder als Deutung erschienen. Die Dio-, Pano-, Zyklo-, Mareo- und | |
Cosmoramen waren ein Rückgriff auf die Allegorie, in der die Ordnung der | |
Bilder in einem hierarchischen Bezug festgelegt ist. Wenn man sich also | |
einfand in „der“ Südsee, auf siegreichem Schlachtfeld zu einer bestimmten | |
Stunde, oder in einem berühmten Dom, so war gerade die Festlegung der | |
Perspektive der triumphale Akt, die Perfektion die Erfüllung. Das Panorama | |
lenkte eine Kanonisierung des Blicks, die mehr oder minder spielerisch vom | |
Publikum gesucht wurde. Daß die Zuschauer sich „tatsächlich an den | |
dargestellten Ort versetzt“ glaubten, wie die Ausstellungsmacher | |
argumentieren, diese Meinung ist wohl einer zu naiven Lektüre | |
zeitgenössischer Quellen geschuldet, deren Begeisterung über die Perfektion | |
der Täuschung – ähnlich wie bei den ersten französischen Berichten zur | |
Daguerreotypie – eher als Bekenntnis einer positivistischen Weltsicht zu | |
lesen ist. Die Fiktionalisierung der Orte und Zeitpunkte wurde in den | |
Bilderhöhlen geübt und kam eben dort zur Anwendung (so wie wir heute im | |
Kino den Schnitt nicht mehr bemerken, ohne daß man daraus folgern könnte, | |
wir wüßten im Kino nicht, daß wir eben dort sind). Daß die | |
Panoramaindustrie untergegangen ist, ist mit dem Aufkommen hektischer | |
schwarzweißer Stummfilme nur unzureichend erklärt. Eher läßt dieses | |
Verschwinden auf das Ende einer Empfindung – einer Empfindsamkeit – | |
schließen. | |
Es ging wohl um eine gezielte, allegorisch gefärbte Dramatisierung der | |
bildenden Künste, wie sie an den durchscheinenden Aquarellen von Franz | |
Niklaus König – den „Diaphanoramen“ – noch nachzuvollziehen ist. Die | |
bernsteinfarben magisch illuminierten Szenen zeigen heroische Orte der | |
Schweiz, Tells Kapelle im Schein der Fackel und den dazugehörigen | |
Vierwaldstättersee glitzernd im Mondlicht. Der Mond selbst ist nichts | |
anderes als die Lichtquelle selbst, das Aquarell an der Stelle gelocht. | |
Schon damals erreichte die De- | |
Fortsetzung auf Seite 14 | |
Fortsetzung von Seite 13 | |
batte die heiklen Fragen um Sinn und Unsinn illusionistischer Perfektion: | |
Was die Regeln der Täuschung sind und ob sie durchschaubar bleiben müssen, | |
ob die Regeln der Malerei und des Bühnenbildes weiter gelten oder – in | |
Verachtung industrieller Volkskunst – aussetzen; und auch die Ekelgrenze | |
wurde angesprochen. So notierte Goethe, der Franz Niklaus Königs | |
Diaphanoramen zehn Jahre nach ihrer Entstehung, 1820, in Weimar sah, | |
malerische „Wirkung von Licht und Schatten sind am glücklichsten nach allen | |
Forderungen der Kunst ausgedruckt“ (so in „Ueber Kunst und Alterthum“); | |
während er durch dieselben Bilder in den „Tag- und Jahresheften“ die | |
klassischen Regeln der Malerei verletzt sah: „Ein kräftig Durchschienenes | |
setzte sich an die Stelle des lebhaft Beschienenen und übermannte das Auge | |
so, daß anstatt des entschiedensten Genusses endlich ein peinvolles Gefühl | |
eintrat.“ Also: Man kann Reflexe und Spiegelungen mit mehr als | |
konventionellen Mitteln „highlighten“ – aber wer garantiert, daß das | |
Ergebnis nicht öd' ist? Eine Debatte, die einige Fragen zur fiesen Glätte | |
von Werbung vorwegnimmt. | |
## Ein ideologisches Genre | |
Die Ausstellung ist, wie unter der Leitung von Marie-Louise von Plessen | |
(„Berlin, Berlin“) zu erwarten, gut systematisiert und mit einer pompösen | |
Rundfassade, die in die Eingangshalle der – wie hieß das Ding jetzt wieder? | |
– Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland eingezogen | |
wurde, etwas zu laut annonciert. Denn die Manie des kolonialen Blicks auf | |
die Welt erschließt sich erst, wenn man die kleinen Dinge einbezieht, das | |
Falt-Diorama für die Kinder, die Taube mit der Primitivkamera um den Hals, | |
und all die geglückten und absurden Konstruktionen, die Fotografien den | |
Eindruck von räumlicher Tiefe verleihen sollten. Nicht zu vergessen: das | |
äußerst possierliche „Panorama sur les Quais de Paris“, ein Spaziergang am | |
Ufer der Seine, ein prähaussmannsches Häuschen-Paris als kolorierte | |
Lithographie von 9,5 Zentimetern Höhe und mehr als vier Metern Länge, an | |
einer Holzspule aufzurollen für ordentliche Besitzer. | |
Leider zeigt sich im Rundgang eine Schwäche des Gebäudes von Gustav Peichl: | |
eine Ausstellung von dieser Größe wird durch die Architektur der | |
Oberlichtkegel und die unklare Trennung von Treppenhäusern und Saal unnötig | |
zerstreut. Überhaupt hätte man sich die wirre Abteilung aktueller | |
„Künstlerblicke“ sparen können: die Idee der All-Schau ist nicht mehr zu | |
beleben, und die umständlich zu erläuternden Anliegen der Künstler sind von | |
Anbeginn marginal – was sie von der Panoramaindustrie damals unterscheidet. | |
Dagegen hätte die Ergänzungsausstellung der Collection Bonnemaison, in der | |
die Systematisierung von Seherfahrungen in der Fotografie überzeugend und | |
schlicht aufgezeigt wird, nicht ins obere Stockwerk des Gebäudes verlegt | |
werden dürfen. Josef Sudeks Vertikalpanorama einer Schaukel – ein | |
düstergraues Gartenstilleben unter knäueligen Wolken (1955) – ist so ein | |
fotografischer Gegenentwurf des 20. Jahrhunderts, der die ideologische | |
Dimension des Genres unterläuft und zeigt, was es psychologisch gesehen | |
ist: ein ziemlich ungewöhnliches Format. | |
„Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts“. | |
Kunst-Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn. Bis zum 10. | |
Oktober, Di.–So. 10–19 Uhr. Der Katalog kostet 59 DM. | |
10 Jul 1993 | |
## AUTOREN | |
ulf erdmann ziegler | |
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