# taz.de -- Ich habe keine Illusionen | |
> Aber ich rege mich trotzdem auf. Gespräch mit Pierre Bourdieu über die | |
> Verdrängung der Intellektuellen aus den öffentlichen Debatten und | |
> Möglichkeiten, sich wieder einzumischen ■ Von Christine Siebert | |
taz: Herr Bourdieu, wie schätzen Sie die Einflußmöglichkeiten der | |
Internationalen Schriftstellerparlaments ein? | |
Pierre Bourdieu: Ich hoffe, daß es uns gelingen wird, die wichtigsten Köpfe | |
aller Disziplinen zu vereinen, also nicht nur Schriftsteller, sondern auch | |
Philosophen, Künstler und Wissenschaftler, um gemeinsam auf konkrete | |
Probleme reagieren zu können, um in Jugoslawien, Haiti und Algerien, im | |
Iran und in der Türkei eingreifen zu können. Ein großes Problem ist die | |
Form der Intervention. Leidenschaftliche Grundsatzerklärungen genügen | |
nicht. Wir müssen Spezialisten dafür gewinnen, aktuelle Krisen zu | |
analysieren: Ich denke dabei an Initiativen wie das Pariser | |
Algerienkomitee, das sich aus bedeutenden Maghreb-Spezialisten | |
zusammensetzt, die eine sehr fundierte Krisenforschung betreiben. Je | |
umfassender die Analyse, desto präziser und wirksamer unser Eingreifen. Wir | |
wollen also symbolisches und intellektuelles Kapital versammeln. Wir wollen | |
keine Selbstdarstellung, keine spektakulären Sit-ins, kein Theater in | |
Sarajevo. Wir wollen uns nicht gegenseitig beweihräuchern, wir wollen | |
arbeiten. | |
Wie können sich Intellektuelle mehr Gehör verschaffen? | |
Die Intellektuellen haben keinen direkten Zugang zur öffentlichen Meinung – | |
höchstens durch ihre Bücher, aber das genügt nicht. Wir müssen also eine | |
Kollektivkraft, eine „Internationale der Intellektuellen“ bilden und | |
länderübergreifende Positionen beziehen, um uns nicht der Parteilichkeit | |
schuldig zu machen. Wir müssen auf die Medien einwirken, verhindern, daß | |
Nationalisten die Medien benutzen, wie in Jugoslawien. Die Intellektuellen | |
sind mehr und mehr abhängig von den Medien – darum sind sie einerseits so | |
ohnmächtig wie noch nie, und andererseits waren sie noch nie so wichtig: | |
Sie sind die einzigen, die neue Ideen anbieten, Ideen, die nicht in die | |
Logik der Bürokratie, der Politik, der Medien passen und deshalb | |
Schlagkraft haben. | |
Sie wünschen sich mehr Einfluß auf die Medien, eine stärkere Präsenz der | |
Intelligenzija in der Öffentlichkeit. Tendieren die Intellektuellen nicht | |
eher dazu, mehr und mehr zur geschlossenen Gesellschaft zu werden? | |
In der Tat interessieren sich fast nur die Philosophen für die Philosophie | |
und die Literaten für die Literatur. Dasselbe gilt für alle | |
Kulturschaffenden. Aber das ist ein altes Problem: Früher debattierte die | |
Intelligenzija in den Salons hinter verschlossenen Türen, heute ist man | |
während der Kolloquien unter sich. Und das ist skandalös. Schließlich | |
erstellen all diese Wissenschaftler Analysen, die zum Verständnis der | |
gegenwärtigen Krisen beitragen können. Wenn sie aber nur gegenseitig ihre | |
Schriften lesen, dann ist damit niemandem geholfen. Es ist einfach | |
lächerlich, wenn das CNRS (Centre National des Recherches Scientifiques) | |
nur für das CNRS da ist und das Max-Planck-Institut nur für das | |
Max-Planck-Institut. Die Forschungsergebnisse müssen öffentlich gemacht, | |
verbreitet, diskutiert, im Alltag verwendet werden. Die Intellektuellen | |
müssen in den politischen Kampf ihre Kompetenzen einbringen und nicht nur | |
Prestige. Und nicht nur der Informationsfluß zwischen den Intellektuellen | |
und der Öffentlichkeit muß gefördert werden, sondern auch der Austausch | |
zwischen den Disziplinen, wie ihn Liber anstrebt, eine von fünf | |
europäischen Zeitungen gegründete Kulturzeitschrift, die auch in | |
Deutschland erscheinen wird. Dort werden Forschungsergebnisse aus | |
Philosophie, Sozialwissenschaften, Kunst und Literaturwissenschaften | |
veröffentlicht. Wir müssen die Medien nutzen, uns vor der Vereinfachung | |
durch die Medien schützen, und wir müssen wieder Texte produzieren, die die | |
Öffentlichkeit interessieren. | |
Warum liest fast niemand unsere Texte? Nicht nur, weil sie zu kompliziert | |
sind. Sondern auch, weil die meisten Leute das Gefühl haben, diese Texte | |
gingen sie nichts an. Und wir haben uns bislang so verhalten, als ginge uns | |
die Rezeption – oder die Nichtrezeption unserer Schriften nichts an. Es | |
liegt an uns, eine größere Öffentlichkeit zu erreichen: Indem wir Interesse | |
zeigen. Welche Probleme stellen wir dar und wie stellen wir sie dar? Und es | |
gibt – neben dem wissenschaftlichen Diskurs – genügend Möglichkeiten, | |
Probleme allgemeinverständlich darzustellen. | |
Welche Chance geben Sie der „Kreolisierung“, der Vermischung der Kulturen, | |
wie Edouard Glissant sie sich vorstellt? | |
Das hängt von der Politik ab, die verfolgt wird. Wir wissen ja inzwichen: | |
Räumliche Annäherung erzeugt nicht zwangsläufig eine Vermischung der | |
Kulturen, im Gegenteil, sie erzeugt Feindseligkeiten. Die räumliche | |
Trennung ist der Kommunikation paradoxerweise zuträglicher als die | |
räumliche Annäherung. Wie werden die Einwanderungsländer reagieren? Werden | |
sie sich öffnen oder schließen? Auch das Verhalten der Kulturschaffenden | |
ist maßgeblich: Werden sie sich auf alte Traditionen versteifen, man denke | |
nur an die halsstarrige Verteidigung der französischen Orthographie – oder | |
werden sie von den neuen Impulsen profitieren? Wird es Schriftsteller | |
geben, die wie Joyce 20 Sprachen in eine multiple Sprache einfließen | |
lassen, eine neue Sprache erfinden? Und werden die Regierungen solche | |
Künstler fördern? Oder werden sie die sogenannte Reinheit verteidigen? | |
Ist die „Internationale der Intellektuellen“, die ja die Wiederbelebung der | |
Figur des engagierten Intellektuellen versuchen will, nicht eine Illusion? | |
Ich glaube, ich neige weniger zu Illusionen als andere – und gerade darum | |
bin ich noch begeisterungsfähig, ich bin nicht enttäuscht. Ich bin immer | |
eine Spur pessimistisch – zum Beispiel auch in bezug auf das | |
„Internationale Schriftstellerparlament“: Ich bin einer der Gründer dieser | |
Initiative, aber ich war nie euphorisch, ich bin immer realistisch | |
geblieben. Wenn diese kollektive Mobilisierung der Intellektuellen gelingen | |
soll, dann müssen wir tatsächlich zuerst beträchtliche Hindernisse | |
überwinden: den Konkurrenzgedanken, der uns zu Gegnern macht, die | |
Beeinflussung durch Politik und Wirtschaft; wir müssen die Interessen jedes | |
einzelnen zurückstecken. Und trotz aller Hindernisse, aller Zweifel müssen | |
wir es versuchen – und hier schafft der Pessimismus Zwänge. | |
Menschenrechtsverletzungen, Fremdenfeinlichkeit, Nord-Süd- Gefälle, | |
Ghettoisierung der Intellektuellen, Skandale um verseuchte Blutkonserven, | |
die Ohnmacht der Wissenschaftler, die Invasion der Werbung, des Marketings | |
– die Liste kann fortgesetzt werden. All das erschreckt mich so, daß ich | |
etwas tun muß, selbst wenn ich keine Illusionen habe. | |
20 Nov 1993 | |
## AUTOREN | |
christine siebert | |
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