| # taz.de -- Tiefflüge in die Wende-Linguistik | |
| > ■ Sprachwissenschaftler und Autoren aus Ost und West zur deutschen | |
| > Sprache nach der Wende / Anekdötchen von hüben und drüben und | |
| > gegenseitiges Beäugen | |
| Laß mich hören, wie du sprichst, und ich sage dir, woher du kommst. Wer | |
| „schöpferisch“ statt „kreativ“ und „Kosmonaut“ statt „Astronaut�… | |
| ergo aus dem Ostteil der Stadt kommen. Sind Ossis und Wessis, die sich | |
| mittlerweile aus einem gesamtdeutschen Kleiderschrank bedienen, noch durch | |
| Unterschiede im Sprachgebrauch zu unterscheiden, fühlen sich die | |
| Ostdeutschen einem sprachlichen Anpassungsdruck ausgesetzt, sind sie | |
| sachlicher in der Diskussion? Das waren Fragen, die bei der Diskussion | |
| „Sprache nach der Wende“ am Dienstag im „Podewil“ einen spannenden Abend | |
| versprachen. | |
| Sechs Sprachwissenschaftler, Autoren und Lyriker aus Ost und West hatten | |
| das Podium bestiegen, um in die höheren Sphären der Wende-Linguistik | |
| einzudringen: der Ostlyriker Richard Pietraß, die LinguistikprofessorInnen | |
| Ruth Reiher (HUB), Walter Diekmann (FU), Ewald Lang (HUB), der Westberliner | |
| Journalist und Essayist Dieter Hildebrandt und der Lyriker und Essayist | |
| Rainer Kirsch, der 1973 aus der SED ausgeschlossen wurde und von März bis | |
| Oktober 1990 Präsident des Schriftstellerverbandes war. Obwohl zu Beginn | |
| einhellig befunden wurde, daß es völlig schnuppe sei, ob man Haftschalen | |
| oder Kontaktlinsen, Zielsetzung oder Zielstellung sage und die Unterschiede | |
| auf anderer Ebene zu suchen seien, ergötzte sich vor allem Hildebrandt, der | |
| den Arbeiter-und-Bauernstaat oft besuchte, an Anekdötchen aus der DDR. In | |
| einer Ost-Apotheke sei es schwierig gewesen, „Tempos“ zu bekommen. | |
| Ruth Reiher befand ganz richtig, daß Ossis stärker sachbezogen | |
| argumentieren würden und daß Wessis oft redeten, um sich darzustellen. „Das | |
| ist ja nicht unbedingt negativ“, schob sie schnell nach. Verprellt werden | |
| sollte niemand an diesem gesamtdeutschen Sprachabend. Jedenfalls seien | |
| Ossis „etwas gehemmter und unsicherer“, aber eben auch „sachlicher“. Im | |
| einzelnen sei das aber nur sehr schwer zu belegen. Endlich schaltete sich | |
| auch Rainer Kirsch ein. Das „um den heißen Brei herumreden“ sei ja nichts | |
| Neues. Das gebe es schon ewig und kenne man von Politikern zur Genüge. | |
| Ostler und Westler ließen einander geduldig gewähren. Machte Spezie Ost den | |
| Mund auf, spitzte Spezie West die Ohren. So auch Dieckmann, der keinen | |
| Sprachunterschied zwischen Ost und West ausmachen kann und nicht den | |
| Eindruck hat, daß Ossis sachlicher seien. Vielmehr seien der Gebrauch der | |
| Sprache und das kommunikative Verhalten „sicheres Herkunftsindiz“. Gerne | |
| spiele er in der Kneipe das Ossi-Wessi-Erkennungsspiel. Obwohl er ziemlich | |
| sicher sei, oft ins Schwarze zu treffen, sei eine Trefferquote natürlich | |
| nicht zu ermitteln. Richard Pietraß, der neulich selbst Objekt dieses | |
| Suchspiels wurde, erzählte von seiner Überraschung, dabei zum ersten Mal | |
| als Wessi durchgegangen zu sein. Eine seit langem in Deutschland lebende | |
| Jugoslawin hatte ihn als „Gardewessi“ geoutet. Ihre Begründung: seine | |
| „nachlässig elegante Kleidung“. | |
| Nach diesen Ausschweifungen versuchte Moderator Ewald Lang, mit seinem | |
| Rauschebart zwischen Wolfgang Thiere und Thomas Krüger, zum Problem der | |
| Sprachanpassung zurückzukommen. „Wer existieren will, muß sich auch in | |
| sprachlicher Hinsicht anpassen“, so Ruth Reiher. Rainer Kirsch, der sich | |
| als einziger verpflichtet fühlte, die Sprachanpassung zu verteidigen, | |
| wollte diese am Beispiel des „sanften Zwangs der Mode“ zeigen. Diese | |
| Beweisführung fand zum Glück nicht nur Hildebrandt „auf westdeutsch: nicht | |
| stringent“. | |
| Aus den geplanten Höhenflügen in die Wende-Linguistik wurden an diesem | |
| Abend leider nur seichte Tiefflüge in die Niederungen der persönlichen | |
| Betrachtungen. Der Moderator nahm sich die berechtigte Kritik des Publikums | |
| zu Herzen und versprach für die nächste Diskussion der Veranstaltungsreihe | |
| „Der deutsche Dienstag“ eine bessere Vorbereitung. Barbara Bollwahn | |
| 23 Jun 1994 | |
| ## AUTOREN | |
| barbara bollwahn | |
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