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# taz.de -- „Ein Triumph in unserer Geschichte“
> In Lettland entscheidet sich heute, ob der Exjournalist, Abenteurer und
> Rechtspopulist Joachim Siegerist stellvertretender Ministerpräsident wird
> und, sobald er Lettisch gelernt hat, auch Wirtschaftsminister  ■ Aus Ri…
> Anita Kugler
Das Hamburger Landgericht ist nicht zu beneiden. Wenn es Pech hat,
erscheint bei dem – noch im Herbst – anstehenden Berufungsprozeß wegen
„Volksverhetzung“, nicht der rechtsradikale deutsche Buchautor mit
lettischem Paß, Joachim Siegerist, 48, vor dem Staatsanwalt, sondern der
demokratisch gewählte stellvertretende Ministerpräsident der Republik
Lettland, der Wirtschaftsminister in spe, Joahims Zigerists.
Spricht das Gericht den Deutschen Siegerist frei, kann er seine
Hetzkampagne – gegen „Scheinasylanten“ und „kriminelle Zigeuner“ – …
Lettland, quasi mit deutschen Segen, fröhlich weiterführen. Verurteilt das
Gericht aber den stellvertretenden Ministerpräsidenten Joahims Zigerist,
werden sich die offiziellen deutsch-lettischen Beziehungen mit Sicherheit
abkühlen.
Dieser „worst case“, so ein Mitarbeiter der Deutschen Botschaft in Riga,
wird eintreten, wenn passiert, womit in Lettland die Mehrheit rechnet. Bei
der heutigen Eröffnungssitzung der 6. Saeima, also bei der ersten Sitzung
des Anfang Oktober neu gewählten lettischen Parlaments, wird der
Staatspräsident Guntis Ulmanis (Bauernbund) aller Wahrscheinlichkeit nach
einem abenteuerlichen Links-Rechts-Parteienbündis, den Regierungsauftrag
erteilen. In diesem hat Jochaim Siegerists rechtspopulistische Bewegung
„Pro Lettland“ ein gewichtiges Wort mitzureden.
## Die Partei von Siegerist will vier Minister stellen
Von den in der neuen Regierung des Ministerpräsidenten Ziedonis Cervers (DP
Saimnieks) zu verteilenden zwölf Ministerien, beansprucht die
Siegerist-Partei vier der wichtigsten: Verteidigung, Bildung, Arbeit und
Soziales und eben das Schlüsselressort Wirtschaft. Das will Siegerist „nach
seinen Spielregeln“ führen – wenn er nach sechs Monaten „fließend“ le…
spricht. Bisher kann Siegerist nur einen Satz vom Blatt ablesen und der
heißt: „Lettland den Letten und nicht den Politikern“. Bedeutsam für Euro…
ist sein Wunschressort auch deshalb, weil Lettland als erster baltischer
Staat eben die volle Mitgliedschaft in der Europäischen Union beantragt
hat.
In der hübsch renovierten provisorischen Parteizentrale gegenüber vom
Rigaer Hauptbahnhof, ist man sich schon seit Wochen sicher, daß Ulmanis nur
an die Wahlsieger den Auftrag erteilen kann, „alles andere wäre Verrat am
Volk“. Schon packt man eifrig die Umzugskisten und feilt an der zukünftigen
Regierungserklärung. Ununterbrochen klingeln die Telefone, Journalisten aus
aller Welt bitten um Termine. „Herr Siegerist hat Wichtigeres zu tun“,
lautet die Standardantwort. Seit ARD-und ZDF-Journalisten, aber auch die
New York Times, 1993 versuchten nachzuweisen, daß Siegerist Grenzbeamte
bestochen habe, um Antiquitäten aus dem Land zu schmuggeln, beschimpft er
die „Journaille“ als „Agenten Moskaus“. Selbst für die rechtsextreme J…
Freiheit hat Siegerist, nachdem sie ihn als „geschmacklosen Beleidiger“
bezeichnete, keine Zeit mehr.
Auf meine Frage, wie sich eine lettische Partei fühle, deren Vorsitzender
in Deutschland wegen Aufstachelung zum Rassenhaß vor Gericht steht,
antwortet der Ideologe der Partei, Dr. Ilmars Lapa: „Es ist einen Schande
und Sünde, daß ein Mensch, der es wagt, die Wahrheit über die Zigeuner zu
sagen, so verfolgt wird.“ Siegerists stilisierte Biographie, wonach er der
uneheliche Sohn eines 1945 nach Deutschland geflüchteten lettischen
SS-Legionärs sei, den er nach langem Suchen endlich halbtaub in einem
englischen Kohlenrevier endeckte, findet er geradezu symptomatisch für das
„Elend der lettischen Geschichte“.
An Joachim Siegerist scheiden sich in Lettland die Geister, vom „Phänomen
Siegerist“ ist ständig und überall die Rede. Für die größte, der alten
Regierung nahestehende Tageszeitung des Landes, die Diena, ist er schlicht
ein „Lügner“ und „Aufschneider“. Daß er homosexuell orientiert sei, d…
aber in Ehrenworterklärungen abstreite, mache ihn „erpreßbar“ und deshalb
für das Land „gefährlich“. Und daß der wütende Antikommunist, der noch …
zwei Monaten die „Banditen am liebsten hängen“ gesehen hätte, jetzt mit
seinen früheren Feinden, den den Alt- und Reformkommunisten, Linksliberalen
und Wirtschaftsliberalisten gegen eine Mitte-Rechts-Koalition paktiere,
entlarve ihn endgültig als „prinzipienlosen Demagogen“.
Für die Opposition in der neuen Saeima – wenn eintritt, was vorausgesagt
wird, wird es die bisherige Regierungspartei „Lettischer Weg (LC)“ und das
konservativ bis rechtsextreme Bündnis „Nationaler Block“ sein – ist
Siegerist schlicht ein „Abenteurer“. „Er hat Lettland vor der Welt
lächerlich gemacht“, sagt Peteris Elferts, Abgeordneter des LC. Und daß der
Chef der orthodoxen Sozialistischen Partei – der wegen Hochverrats
verurteilte Alfred Rubics – aus dem Gefängnis entlassen werden soll, wenn
seine sechs Abgeordneten mit ihren Stimmen Siegerist in den Sattel heben,
empfindet er geradezu als „obszön“.
Eine Hochschullehrerin, Deputierte der in diesem Bündnis sehr starken
Rechtsaußenpartei „Für Vaterland und Freiheit“, erhielt vorgestern in der
Universität viel Beifall, als sie sagte: „Siegerist will die Seele
Lettlands an deutsche Unternehmer verkaufen und unsere Unabhängigkeit an
Moskau. Siegerist ist ein Kreuzritter des Kapitals und des Kremls.“
Zumindest die Kapitalvertreter scheinen über einen Wirtschaftsminister
Siegerist nicht sehr begeistert zu sein. Erwin Blasum, ein vom deutschen
Arbeitgeberverband nach Riga ausgeliehener Sozialexperte, kommentiert
vorsichtig, aber mit verdrehten Augen: „Gibt Gott das Amt, dann gibt er
auch Verstand.“ Seitdem Siegerist ständig verkündet, daß er das
öffentlich-rechtliche Fernsehen privatisieren will, weil es nur das Volk
verdumme, warnt auch die im Schriftstellerverband organisierte Intelligenz
vor Weimarer Verhältnissen.
Die allerschärftste Kritik an Siegerist aber kommt ausgerechnet von seinen
eigenen Leuten. Es ist auch die einzige Kritik, die Siegerist mitsamt
seinem Block der „Nationalen Erneuerung“ eventuell in die Opposition
katapultieren könnte. Der „Pro Lettland“-Abgeordnete Guntis Enins, ein
Ultra- nationalist, Runenforscher und Anbeter von uralten heiligen Bäumen,
ist derartig empört über die Zweckkoalition mit den „Kommunisten“, daß er
bei der Abstimmung über die Regierungserklärung mit der Opposition stimmen
wird. Seitdem bekommt er Berge von Solidaritätspost.
Weil die Mehrheit des Links- Rechts-Parteienbündnisses mit Siegerists „Pro
Lettland“-Bewegung aber nur hauchdünn sein wird und Enins nicht der einzige
Überläufer bleiben könnte, ist die Siegerist-Partei derzeit etwas nervös.
Am Sonnabend warfen Unbekannte die Fensterscheiben von Enins' Wohnung ein
und drehten ihm den Strom ab.
Das „Phänomen Siegerist“ würde sich in Luft auflösen, wenn es den Mensch…
in Lettland bessergehen würde. Fast alle, die den Deutschen mit lettischem
Pass wählten, haben es getan, weil es ihnen schlechtgeht. Sehr schlecht
sogar, vor allem den Menschen auf dem Lande. Das Lettland von 1995, meint
ein protestantischer Kirchenvorstand, ist eine Neun- Zehntel-Gesellschaft:
„Neun sind arm, einer ist reich.“
In Riga sieht man Arm und Reich nebeneinander. Neben der luxuriös
renovierten Deutsch-Lettischen Bank an Rigas prominentester Straßenecke,
stehen jeden Tag alte Frauen, die gebrauchte Kleider und abgetretene Schuhe
zum Verkauf hochheben. Wenn die Polizei sie erwischt, müssen sie mit auf
die Wache.
Aber von der staatlichen Mindestrente von 38 Lat (150 Mark) können sich die
Rentner kaum ernähren, und zum 1. November erhöhten sich die Heizkosten um
das Dreifache. Ein Arzt in einem staatlichen Krankenhaus verdient maximal
100 Lat (380 Mark), eine Lehrerin 60 Lat. Als im Frühjahr die größte Bank
in Lettland, die Baltija Bank, nach Fehlspekulationen auf einen
überbewerteten Lat spektakulär zusammengekrachte, verloren Hundertausende
jeden Centime, den sie besaßen. Es traf durchweg die Kleinsparer, die den
hohen Zinsversprechungen der Kommerzbank auf den Leim gegangen waren.
Eine parlamentarische Untersuchungskommission, die prüfen soll, ob das
Finanzminsterium seine Aufsichtspflicht verletzt habe, ist bis heute nicht
eingerichtet worden. Von dem Vertrauensverlust der Bevölkerung „in die da
oben“ profitierte Siegerist. Seine Schimpftiraden gegen die
„Regierungsgauner“ und „Betrüger“, die alle das Volk belügen und um s…
Besitz bringen würden, sind eingängig. „Siegerist sagt die Wahrheit,
Siegerist hat Mut“, meinen viele. Sollte er die Wahl gewinnen, so hat er es
den Rentnern versprochen, würde er die Renten auf 120 Lat erhöhen.
Und Siegerist hilft. Den Armen, den Schwachen, den Kranken, den Katholiken,
den Evangelischen, den Juden, den Waisenkindern, den Behinderten und allen
Mühseligen und Beladenen. Seine Hilfe ist erfolgreich, weil sie individuell
ist. Seine Stärke ist die Schwäche der traditionellen karitativen
Organisationen. „Die einzigen Medikamente ohne abgelaufenes Verfallsdatum,
die wir jemals bekommen haben, stammen von Siegerist.“ Das sagt der Leiter
der lettischen Tuberkulose-Gesellschaft und Arzt der staatlichen
Lungenklinik, Victor Vestermanis. Er ist kein Siegerist-Wähler.
## Das „Phänomen Siegerist“ als Folge der Verarmung
Als im Mai ein Brandanschlag auf die Synagoge in der Altstadt verübt wurde,
war es Siegerist, der der Gemeinde die Instandsetzung bezahlte. Während die
weltliche jüdische Gemeinde von dem „Affäristen“ nichts wissen will, hat
sich der chassidische Rabbiner der winzigen religiösen (Lubawitscher)
Gemeinde, Nathan Barkan, zu einem Freund und Unterstützer Siegerists
erklärt. Diese Freundschaft läßt sich Siegerist jeden Monat 250 Mark für
Matze und Suppe kosten. Und schlägt daraus politisches Kapital. Am 12.
Oktober schrieb er als Vorsitzender des in Hamburg ansäßigen ultrarechten
Vereins „Die Deutschen Konservativen“, einen Rundbrief, in dem er jubelte:
„Nahezu die gesamte religiöse Jüdische Gemeinde Rigas hat demonstrativ für
mich gestimmt“. Auf seiner Kandidatenliste stünden „wichtige Vertreter des
Judentums“. Und seine politische Bilanz lautete: „Für die Deutschen
Konservativen ist dieser Wahlsieg in Lettland ein nie dagewesener Triumph
in unserer Geschichte.“
Siegerist hat im Namen der „Deutschen Konservativen e. V.“ und der
ebenfalls von ihm geleiteten „Aktion Reiskorn“ viel Geld für seine
Wahlpropaganda und seine Hilfsprojekte eingetrommelt. Das hat sich bezahlt
gemacht: „Ich möchte Ihnen ganz herzlich danke sagen“, schrieb er seinen
Unterstützern, „Dank für Ihre Hilfe zur Wahl im letzten Monat, die mir
enorm geholfen hat und mich letzlich zum Wahlsieger gemacht hat.“
7 Nov 1995
## AUTOREN
Anita Kugler
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