# taz.de -- Es geht um letzte Dinge | |
> Heute treffen sich wieder Menschen in einem Laden am Ku'damm. Sie geben | |
> sehr viel Geld aus, und Karten liegen auf dem Tisch: Magic Cards ■ Von | |
> Ulrich Clewing | |
Es war einmal vor langer, langer Zeit ein Zauberer, der lebte an der Küste | |
eines großen, weiten Meeres. Das Reich, über das er herrschte, war in fünf | |
Teile geteilt. Im ersten regierte die schwarze Magie, die „Magie des | |
Todes“, deren Kraft aus den „Sümpfen und Mooren“ kommt. Der zweite Teil … | |
Reiches der Zauberer von der Küste gehörte der zerstörerischen roten, der | |
dritte der heilenden weißen und der vierte der in ihrer Wucht oft | |
unterschätzten grünen Magie, der Magie des Lebens. Über den fünften Teil | |
des Reiches der Zauberer von der Küste gebot die blaue Magie. Sie bediente | |
sich nicht nur der Elementargewalten der Luft und des Wassers; eine | |
Spezialität der blauen Magie, der „Magie des Geistes“, sind auch „List, | |
Täuschung und Blendwerk“. | |
Vor etwa drei Jahren brachte die US-amerikanische Firma Wizards of the | |
Coast die ersten „Magic“-Sammelkarten auf den Markt. Eine atemberaubende | |
Erfolgsgeschichte nahm ihren Lauf. Der Handel mit den buntbedruckten | |
Pappkartons, die man zu je acht Stück, in silbrigglänzender Folie | |
eingeschweißt, in einschlägigen Spielwarenhandlungen und Comic-Läden kaufen | |
kann, verzeichnet Zuwachsraten, von denen andere Branchen nur träumen | |
können. | |
Sie nennen sich Black Dragon Press, Chaosium oder Iron Crown Enterprises: | |
In den USA gibt es mittlerweile 50 verschiedene Anbieter mit mehr als 200 | |
Kartenserien im Repertoire, angefangen bei allen erdenklichen Spielarten | |
des Fantasy über Fantasy-Football bis zu den Abenteuern der Marvel- Helden | |
Spiderman, Batman und Silversurfer. Das Unternehmen Target Games gab | |
kürzlich eine Kartenserie mit Fotos aus dem Film „The Crow“ heraus, die | |
Konkurrenz von Ulimate Combat hat eine mit Darstellungen der | |
„Kampftechniken des Alten China“ im Angebot. | |
Unangefochtener Marktführer aber ist Wizards of the Coast. Magic-Karten | |
sind die Originale, das wird honoriert. „Magic hat die besten Zeichnungen, | |
die ausgefeiltesten Regeln“, sagt Mike aus Spandau, der seit gut einem Jahr | |
Fantasy-Karten sammelt. Wizards of the Coast hat die renommiertesten | |
Comic-Künstler unter Vertrag, die jedes Motiv signieren und darüber hinaus | |
noch einmal namentlich erwähnt werden. Magic-Karten bestehen aus einem | |
Bildfeld mit Zeichnung. In einer Kopfleiste am oberen Rand taucht der Name | |
der Karte auf. Im unteren Teil finden sich verschiedene Zahlen und Symbole, | |
außerdem häufig Sinnsprüche oder Kommentare. | |
Einer der Treffpunkte der Berliner Kartensammler ist der Spielwarenladen | |
von Andreas Kaluza. Zweimal die Woche, immer freitags und samstags, sitzt | |
die Szene in dem Laden am Ku'damm auf der Empore an einem Tisch, man | |
spielt, tauscht, fachsimpelt. Der Mülleimer in der Ecke ist randvoll mit | |
geleerten, silbrigschimmernden Päckchen. Die typische Magic- Klientel ist | |
überraschend normal: Der durchschnittliche Kartensammler ist männlich, | |
zwischen 14 und 20 Jahre alt und verfügt über überdurchschnittliche | |
Bildung. Die meisten, die sich in Kaluzas Laden treffen, besuchen | |
Gesamtschule oder Gymnasium. | |
Collectors cards, Sammelkarten, existieren schon seit Jahrzehnten. Doch | |
Magic-Sammelkarten sind anders. Sie vereinen auf geradezu genial einfache | |
Weise zwei Grundeigenschaften eines erfolgreichen Markenartikels: Sie | |
wecken Besitzerstolz und Spieltrieb. Magic-Cards sind nämlich – im | |
Gegensatz zu den althergebrachten Sammelbildern, die sich auf Baseball- und | |
Basketballstars oder, die europäische Variante, auf Fußballspieler | |
beschränkten – nicht nur zum Sammeln da. Sie sind der Grundstock für ein | |
variantenreiches Kartenspiel mit kompliziertem Regelwerk, angesiedelt in | |
der träumerisch-verquasten Welt des Fantasy. „Diese Art von Kartenspiel ist | |
aufwendig“, konstatiert Hans-Joachim Alpers, Hamburger Fantasy-Autor und | |
Herausgeber mehrerer Science-fiction-Lexika, „und beim Spieler muß durchaus | |
kreative Phantasie vorhanden sein.“ | |
Da geht es um die letzten Dinge des Lebens: die eigene Sippe beschützen, | |
fremde Länder erobern oder die Welt respektive eine schöne Jungfrau vor | |
supersuperbösen Bösewichten retten. Im Reich des Zauberers von der Küste | |
existieren listige Feen, muskulöse, wohlgeformte Prinzen und Prinzessinnen, | |
gruselige Monster, da leben feuerspeiende Drachen auf Phantasiekontinenten, | |
verfügen fahrende Händler über supranatürliche Kräfte. An sich ist alles | |
möglich, sofern man nicht allzu großen Wert auf logische Erklärungen legt. | |
Die Regeln, die dem Kartenspiel zugrunde liegen, sind klar strukturiert. | |
Jede Karte hat bestimmte Eigenschaften und Werte, die dazu dienen, dem | |
Gegner die zwanzig „Lebenspunkte“ abzunehmen, die er zu Anfang des Spiels | |
erhalten hat. Die Szenarien sind so martialisch wie die Sprachregelung: | |
Eine Partie ist keine Partie, sondern ein Duell. | |
Die Grundidee von Magic besteht darin, daß sich jeder Spieler vor | |
Spielbeginn jene Karten, von denen er sich die größte Wirkung verspricht, | |
selbst zusammenstellt. Klartext: Je mehr Geld investiert wurde, desto | |
größer sind die Chancen, ein gutes Blatt zu bekommen. Bis ein Sammler ein | |
ordentliches, mit genügend raren – und entsprechend wirkungsvollen – | |
Bildern ausstaffiertes Blatt (Fachjargon: Deck) beisammen hat, sind | |
unzählige doppelt und dreifach vorhandene Karten getauscht und nicht selten | |
an die tausend Mark zum Teufel. „Manche geben dafür richtig viel Geld aus“, | |
bestätigt Andreas Kaluza, der Ladeninhaber. Kaluza weiß, wovon er spricht. | |
Auch er ist den kleinen bunten Kartons verfallen, sammelt aber „aus | |
Selbstschutz“ nur ganz spezielle Auflagen. | |
Um genug Anreiz zu bieten, eine eigene Sammlung aufzubauen, hat die Firma | |
Wizards of the Coast zwei unterschiedliche Strategien gewählt. Auf der | |
einen Seite klotzt sie mit purer Masse und immer neuen Serien. In der | |
englischen Fassung kursieren derzeit etwa 1.500 Motive, in der seit etwa | |
einem Jahr vorliegenden und ebenfalls sehr erfolgreichen deutschen sind es | |
immerhin bereits 500 verschiedene Karten. | |
Auf der anderen Seite – und das ist der Trick – hält Wizard of the Coast | |
bei ausgesuchten Motiven die Auflagen künstlich niedrig. Manche Karten sind | |
so selten, wie man es sonst nur von Kunstgraphiken kennt. Von der | |
legendären Black Lotus, der Blauen Mauritius unter den Magic-Sammelkarten, | |
sind weltweit angeblich nur eintausend Exemplare im Umlauf. | |
Das Leib-und-Magen-Blatt der Szene ist Scrye aus Troy, einem kleinen Kaff | |
im Ostküstenstaat New York. In dem seit Januar 1995 einmal monatlich | |
erscheinenden, auch hierzulande erhältlichen Hochglanzmagazin steht alles, | |
was ein Kartensammler wissen muß. Seitenweise werden Spielzüge analysiert, | |
Regeln interpretiert und Tips für die effektivste Zusammenstellung eines | |
Decks verteilt. Der wichtigste Teil von Scrye aber ist der mit den | |
Tabellen, in denen die Preise für seltene Sammelkarten aufgelistet sind. | |
In der Leserbriefecke kommt die Basis zu Wort. Dort erlauben sich die | |
ansonsten durchaus herstellerfreundlichen Macher von Scrye schon mal eine | |
Portion kritischer Töne. Die von B. Tackenberg aus Tuscon, Arizona zum | |
Beispiel, der dem ständig neue Kartenserien produzierenden Zauberer von der | |
Küste wünscht, er möge an „seiner Gier ersticken“. Man kann sich | |
schließlich einfühlen in die Sorgen von Jugendlichen mit teuerem Hobby. | |
Doch die Anarchie von Scrye hält sich freilich in Grenzen. Damit die Kids | |
nicht auf dumme Gedanken kommen, läßt sich schon der nächste | |
Leserbriefschreiber wieder ausführlich über die Vorzüge der verwirrend | |
vielen Auflagen aus. Das gehört für die Scrye-Herausgeber zur | |
redaktionellen Ausgewogenheit. | |
Für den Erfolg von Magic gibt es verschiedene Erklärungen. „Fantasy ist | |
heutzutage die letzte Möglichkeit, romantische Abenteuer zu erzählen. Die | |
Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts nimmt einem ja keiner mehr ab“, | |
glaubt ein Insider wie Hans-Joachim Alpers. Fantasy schafft Welten, in | |
denen sich die Jugendlichen wohl fühlen. Regieren tut das Wunschdenken. | |
„Bei Magic“, sagt Alpers, „lösen sich die Probleme meist auf sehr simple | |
Weise, mit dem Schwert nämlich.“ | |
Allzu leicht sollte man es sich mit solchen Interpretationen jedoch nicht | |
machen. „Es kann sein, daß die Kids einfach mal wieder mit etwas anderem | |
spielen wollen als mit dem Computer“, meint Hans-Joachim Alpers. Und Magic | |
hat auch durchaus pädagogische Züge. „Jede Karte, und sei sie noch so | |
stark, kann durch kluge Kombinationen vom Gegner geschlagen werden“, | |
erklärt Ladeninhaber Andreas Kaluza. „Die Haudraufmethode funktioniert hier | |
nicht.“ | |
Mike aus Spandau, der 20 Jahre alt ist, aussieht wie 15 und am Wochenende | |
immer an den Ku'damm pilgert, weiß noch einen anderen Grund, Magic-Karten | |
zu sammeln. „Ist schon ein besonderer Thrill, wenn man eines dieser | |
Päckchen aufreißt.“ | |
9 Mar 1996 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Clewing | |
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