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# taz.de -- Im Rave der Gefühle
> Alte Pioniere: Auf „Walking Wounded“ arbeiten „Everything But The Girl�…
> an Dancefloor-Folklore  ■ Von Georg Hermens
Wie Popstars wirken Everything But The Girl (EBTG) ganz und gar nicht, wenn
sie auf der Bühne stehen: Ben Watt, der mit einem T-Shirt, auf dem in
riesigen Buchstaben „Puny“ (mickrig, kläglich) steht, sein Keyboard
programmiert und gelegentlich auf die Tasten drückt; und Tracey Thorn, die
mit einem knöchellangen Rock und einem roten Trägerhemd mit einer
stilisierten Blüte drauf die Füße zu einem monoton und steif aussehenden
Tanz hebt.
Auf dem Cover ihres neuen Albums „Walking Wounded“ sitzen sie nun in einer
Limousine mit weißen Ledersitzen: Ben in Trainingsjacke mit Playboyhäschen
drauf und Tracey im roten Cocktailkleid mit Make-up-Spiegel in der Hand.
Natürlich ist das alles ironisch gemeint, „toungue in cheek“, wie der
Engländer sagt. „Ich finde, es sieht lustig aus“, meint Tracey, „EBTG in
einer Limousine, als ob sie ins Studio 54 fahren – und dann das
Playboy-Logo. Unser Image ist sehr ernst, da ist es ab und zu schön, was
Unerwartetes zu tun.“
Etwas Unerwartetes, wie als Mittdreißiger noch eine Pionierleistung in
Sachen Soundmix zu vollbringen. „Walking Wounded“, das ausgekoppelte
Titelstück aus dem Album, stand zwar nur ganz kurz in den Charts und konnte
an den Erfolg von „Missing“ (im Todd- Terry-Remix) nicht heranreichen,
schaffte es aber immerhin auf Platz sieben – und war damit der erste
Drum&Bass-Top-ten-Hit.
Drum&Bass (auch Breakbeat oder Jungle genannt), das ist der Sound, der das
neue EBTG-Album beherrscht, und es ist der Sound, der das nächste große
Ding werden soll – so wollen es schon seit anderthalb Jahren nicht nur die
Fachblätter, sondern auch die Feuilletons dieser Republik. Nur will das die
Masse heute wie Ende 1994 nicht, als das Ganze noch viel plakativer
„Jungle“ hieß.
Der D & B-Sound entstand Ende der achtziger Jahre in London, als die groß
gewordene Rave- Szene nach einer eigenen, neuen Musik suchte. Und wie das
so üblich ist, entstand das Neue dadurch, daß man Altbekanntes neu mischte:
HipHop-Beats, Reggae, Funk, Soul – dann wurde das Ganze digitalisiert und
beschleunigt. Bis es diese wahnsinnig schnell und nervös dahertuckernden,
zischelnden Beats ergab, die stets ein Gefühl von Hektik, Atemlosigkeit und
Zu-spät-Kommen mit sich bringen.
Ganz zufällig kam dieses Modell nicht zustande. Ben Watt, der die
Dancefloor-Szene immer schon aufmerksam verfolgt hatte und ein eifriger
Plattensammler ist, entdeckte nach House irgendwann auch Drum&Bass für
sich. Unter anderem durch den Produztenten John Coxon. Ben Watt: „Früher
haben wir die Songs ganz klassisch am Klavier oder auf der Gitarre
geschrieben, nach dem Motto Melodie, Text, Struktur. Aber nachdem wir mit
Massive Attack und dem Dance-Produzenten John Coxon gearbeitet hatten,
haben wir uns entschieden, erst eine Atmosphäre aufzubauen und einen
Backing- Track aufzunehmen, um dann den Song und den Text am Ende zu
schreiben. Für uns war das eine ganze neue Art zu arbeiten. ,Before today‘
und ,Good cop, bad cop‘ zum Beispiel waren wochenlang nur als
Instrumentaltrack in meinem Computer. Ich habe immer wieder hier und da was
verändert. Und am Ende haben wir dann einen Song geschrieben und darüber
gelegt.“
In den Jahren zvuor hatten EBTG sich langsam, aber sicher in eine Sackgasse
manövriert: Ihre Melange aus angepopptem Jazz und Folk im Stile von Sade
mochte Anfang bis Mitte der achtziger Jahre noch irgendwie zeitgemäß
gewesen sein, aber mit den Jahren bewegten sie sich immer weiter in
Richtung Mainstream. Kultivierter Pop für koffeinfrei swingende Erwachsene,
so die Zielvorgabe der Plattenfirma. Erst die Kooperation zwischen Tracey
und den TripHoppern von Massive Attack machte Aussicht auf ein Ende der
Durststrecke. „Wir fühlten uns in vielerlei Hinsicht so, als wären wir
gestorben. Also hat Ben sich entschlossen, symbolisch zu sterben...fast
jedenfalls.“
1992 wird bei Watt das Churgh- Strauß-Syndrom diagnostiziert: eine äußerst
seltene Krankheit, bei der sich der Körper und das Immunsystem selbst
attackieren. Nach fünf Operationen hat Ben Watt es geschafft. Er selbst
sieht das Ganze nach dem Motto „Krankheit als Weg“, als einen Anstoß, sein
Leben zu ändern – weg vom zufriedenen Popstar zweiter Klasse, auf zu neuen
Ufern. Zur Zeit schreibt Watt alles über diese Zeit auf und ist damit auch
noch Autor gegangen: Seine Krankengeschichte wird diesen Herbst unter dem
Titel „Patient“ bei Penguin erscheinen.
Vielleicht haben EBTG es bis dahin ja auch geschafft, Drum&Bass zu dem
Trend zu machen, der er schon so lange hätte werden sollen: Wenn, dann
dürfte das daran liegen, daß sie sich D & B so hingebogen haben, wie sie
ihn haben wollten: nicht mehr rein instrumental, längst nicht so schnell
wie Jungle gemeinhin ist, aber dafür um so poppiger. Denn die neuen Songs
sind so wie EBTG-Melodien und -Texte früher – melancholische Songs über
Sinnsuche und Zweierbeziehungen – nur diesmal mit den entsprechenden Beats
unterlegt: mal Drum&Bass („Before Today“, „Walking Wounded“, „Big Dea…
oder House („Wrong“) oder TripHop („Single“). Ein Modell, das zahlreiche
Nachahmer finden könnte.
Wahrscheinlich wird die Welle, wenn sie wirklich entsteht, über Ben &
Tracey hinwegbrausen – schließlich leben Popmusik und die Charts nun mal
von Frontfiguren, die charismatisch sind oder als charismatisch vermarktet
werden, und EBTG wirken eher wie Mieter von nebenan, die das große Los
gezogen haben. Aber es fühlt sich gut an, „wieder eine Popband zu sein“,
sagen sie – „Pop, nicht Drum& Bass“.
Everything But The Girl: „Walking Wounded“ (Virgin)
10 Jul 1996
## AUTOREN
Georg Hermens
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